Stimmt unser Blick auf Russland und Putin?

Jeden Tag quellen die Medien vor Nachrichten über Putin und Russland über. Doch sind unsere Sichtweisen auf Russland weitgehend von unserem Wunschdenken geprägt.

Der Westen liegt bei seiner Einschätzung Putins und Russlands ziemlich falsch... Wunschdenken und Propaganda werden den russischen Aggressor kaum beeindrucken. Foto: Kremlin.ru / Wikimedia Commons / CC-BY 3.0int

(KL) – Enorm, was wir alles über Putin wissen zu glauben! Mal ist er so krank, dass er bald nicht mehr regieren kann, mal ist er topfit, mal will er dies, mal will er das. Doch was davon stimmt? Was davon ist reine Propaganda? Und können wir es uns leisten, unsere westlichen Strategien auf reinem Wunschdenken aufzubauen? Wer die Gefahr einer nuklearen Eskalation des Ukraine-Kriegs kleinredet, begeht einen sträflichen Fehler. Statt uns in unserer eigenen Propaganda zu wiegen, sollte man eher versuchen, Tatsachen zu bewerten.

Ebenso wie die NATO und die westlichen Staaten hat auch Russland eine Militärdoktrin. Und die besagt, dass Russland offensiv keine Nuklearwaffen einsetzen wird, aber der Nuklearfall für Russland dann gegeben ist, wenn russisches Territorium bedroht oder angegriffen wird. Das ist die russische Militärdoktrin. Und angesichts des Umstands, dass inzwischen täglich Angriffe auch auf russisches Territorium gefahren werden, ist es geradezu unglaublich, dass diese Militärdoktrin mit einem „Na, so weit wird er schon nicht gehen“ einfach ignoriert wird. Denn die Gefahr ist durchaus realistisch (wofür sonst schreibt man so etwas wie eine Militärdoktrin?), zumal sich Putin wie andere Diktatoren nur wenig um das Wohlergehen seines Volks kümmert, wenn dieses unter Druck gerät.

In den ersten Kriegstagen hat Russland in Kaliningrad, in Sichtweite der polnischen Küste, Iskander-Raketen stationiert, also Raketen, die nukleare Sprengköpfe tragen können, und von Kaliningrad aus brauchen diese Raketen 2 Minuten und 2 Sekunden bis London, genau 2 Minuten bis Paris und 1 Minute 47 bis Berlin. Diese Raketen wurden nicht deshalb in Kaliningrad aufgestellt, weil man sie nirgendwo anders unterbringen konnte, sondern um sie im Bedarfsfall einzusetzen. Da nützen markige und kriegerische Sprüche wenig.

Putin versteht nur die Sprache der Stärke!“ ist ein Satz, den westliche Politiker ständig wiederholen. Aber wo kommt dieser Satz her? Wann ist Putin je vor einer Drohung aus dem Westen zurückgeschreckt? Wann hat Putin auf „die Sprache der Stärke“ reagiert? Auch dieser Satz ist reines Wunschdenken derjenigen, denen eine aktivere Kriegsbeteiligung der NATO und des Westens nicht schnell genug kommen kann.

Wer die russische Geschichte anschaut, der stellt fest, dass Angriffe auf russisches Territorium nie sonderlich erfolgreich verlaufen sind. Wann immer Russland unter Druck stand, haben sich die Russen um ihre jeweiligen Führer geschart.

Natürlich gefällt uns der Gedanke, dass ganz Russland ein schweigendes Widerstandsnest ist, in dem 118 Millionen Russen Tag und Nacht darüber nachdenken, wie sie Putin loswerden können. Doch auch das stimmt nicht. Gewiss, es gibt mutige Oppositionelle in Russland, doch die Bevölkerung wird in Russland wie im Westen tagtäglich von Propaganda eingelullt und denkt gar nicht daran, Putin alleine im Regen stehen zu lassen. Nur – mit Propaganda gewinnt man keinen Krieg und die Entwicklung an der ukrainischen Front deutet eher darauf hin, dass den ukrainischen Verteidigern langsam die Luft ausgeht.

Dass mittlerweile jeder, der sich für Verhandlungen und letztlich für Frieden ausspricht, als „Putin-Freund“ diffamiert wird, ist ebenfalls ein Zeichen, dass das einzige, was wirklich funktioniert, die Propaganda auf beiden Seiten ist.

Natürlich „wissen“ im Westen alle, dass Putins Ziel die Eroberung von ganz Europa ist, weswegen jetzt alle verfügbaren und nicht verfügbaren Mittel in die „Kriegsindustrie“ gepumpt werden müssen. Abgesehen davon, dass Russland gar nicht die militärischen Möglichkeiten hat, weitere Fronten zu eröffnen, darf man sich die Frage stellen, woher unsere Experten eigentlich wissen wollen, dass Russland militärische Ambitionen in Polen, Finnland, dem Baltikum und in anderen Ländern hat. Dieses Narrativ stammt aus der westlichen Feder und tatsächlich nicht von Putin, der derartige Ambitionen nie von sich gegeben hat. Doch der Aggressor Russland, der seit 2 Jahren maximale Schwierigkeiten hat, 19 % des ukrainischen Territoriums zu halten und auszubauen, dürfte Probleme haben, weitere Fronten erfolgreich zu eröffnen. Doch über so etwas will niemand nachdenken.

Der Papst hat vollkommen Recht, wenn er wiederholt zu Verhandlungen und der Beendigung des Tötens aufruft. In der Tat, jeder Krieg endet irgendwann mit Unterschriften unter Verträgen und je früher man daran arbeitet, desto weniger Menschen sterben am Ende. Diejenigen, die vom bequemen Sofa aus nach mehr Krieg, mehr Härte und mehr Kampf rufen, selbst aber nicht in die Verlegenheit kommen können, mit einer Waffe in der Hand durch den ostukrainischen Schlamm robben zu müssen, sollten sich schämen. Ein Krieg ist keine TV-Reality-Show, sondern ein gnandenloses Töten und Sterben. Nur – sollte die Eskalation bis zum III. Weltkrieg weitergehen, wird von Europa nicht viel übrigbleiben. Doch das fällt in der aktuellen Kriegsbegeisterung niemanden mehr auf. Das, was Ost und West anrichten, wird man wie bei den letzten Weltkriegen erst verstehen, wenn es zu spät ist. Schlimm, dass zwei Weltkriege mit 100 Millionen Toten nicht ausgereicht haben, damit wir verinnerlichen, dass Krieg keine Lösung sein kann.

4 Kommentare zu Stimmt unser Blick auf Russland und Putin?

  1. Krieg ist das Schlimmste was uns passieren kann. Da haben Sie Recht. Deshalb kann ich jedoch mit bestem Willen keine «Kriegsbegeisterung » im Westen feststellen. Die Absichten Putins? «Der Zerfall der Sowjetunion war das schlimmste Ereignis des 20. Jh», anscheinend schlimmer als Shoah, Völkermorde, Weltkriege,usw… Mit diesem Zitat ist eigentlich alles gesagt.

  2. … Und übrigens die sog. westliche Propaganda mit der russischen Propaganda gleichzustellen ist irreführend und gefährlich.

  3. Es geht nicht um eine «bessere» Propaganda, sondern um die Meinungsvielfalt, die es, im Gegensatz zum Westen, in Russland mittlerweile nicht mehr gibt. Die Art und Weise wie Putin nun sofort versucht, und zwar ohne Gegenmeinung, der Ukraine eine Mitschuld für das Attentat in Moskau zu geben, ist der beste Beweis dafür.

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