Von Flinten-Uschi zu Finten-Ursula

Ursula von der Leyen ist ab heute nicht mehr Bundesverteidigungsministerin. Sie ist designierte Präsidentin der EU-Kommission. Und das Parlament eben doch nur ein Parlament und keine für sich selbst stehende Institution.

Bleibt bei dieser Interpretation des Begriffs "Demokratie" nur noch der Griff zur Flasche? Foto: MM / EJ

(Von Michael Magercord) – High Noon war gegen acht Uhr Abends: Dann stand das Ergebnis fest und Ursula von der Leyen hielt das Schreiben des EU-Parlamentspräsidenten in den Händen, das ihre Wahl zur EU-Kommissionspräsidentin bestätigt. Ordnung muss sein. 384 von 374 benötigten Stimmen klingt zwar knapp, ist aber nun einmal ausreichend.

Morgens war das noch anders, da wurde noch kräftig spekuliert, ob sie die Stimmen zusammen bekommen würde, zumal die Grünen schon angekündigt hatten, nicht für die zu stimmen, und die Linken sowieso nicht. Am Mittag hörte sich das auf den Fluren des Parlamentes schon anders an, selbst unter den Grünen konnte man im Vorbeigehen den internen Gesprächen unter Abgeordneten lauschen: „Das war doch gar nicht so schlecht“, sagte da eine Grüne zum anderen Grünen, der widerwillig zwar, aber zustimmte: „Ja, sooo schlecht war das nicht, aber…“

Was war geschehen? Am Vormittag stand Ursula von der Leyen Rede vor den Abgeordneten. Antworten hatte sie ja schon vorher gegeben, zum Teil auf den Konferenzen mit den einzelnen Fraktionen, teils in nachgereichten Schreiben an die Abgeordneten der Sozialdemokraten und Liberalen. Nun nutze ihre halbe Stunde Redezeit, um sich eine Mehrheit in dieser politischen Mittellage des Parlamentes zu sichern – und sie tat es mit den Themen der Mitte: Klima, soziale Absicherung, Rechtsstaatlichkeit.

Eine Klimabank soll Einnahmen aus Steuern auf CO² in Projekte schießen und das 55%-Ziel der Reduktion soll festgeschrieben werden; die Beglückungen der soziale Marktwirtschaft sollen auch die unteren Lohnempfänger, Arbeitslosen oder Digitalisierungsopfer erreichen durch Mindestlohn und regional angepasste Grundsicherung; und die blinde Justizia der EU soll in allen Ländern gleichermaßen auf die unbedingte Einhaltung der rechtsstaatlicher Normen drängen. Ein bisschen was für den rechten Flügel im Parlament gab’s auch, mehr Frontex, mehr Grenzschutz, humane Korridore unter UNHCR-Ägide – aber all das klang schon nicht mehr so unerbittlich, wie es noch vor Tagen schien und gilt selbst in der proeuropäischen Mitte als zustimmungsfähige Haltung.

War das nun die Finte, die schließlich Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin hat werden lassen? Denn wie soll man als Parlamentarier auf dieses verbale Entgegenkommen reagieren? Sollte es nun immer noch darum gehen, stolz zu zeigen, was ein Parlament ist und die vom Rat vorgesetzte Kandidatin durchfallen lassen? Soll man beweisen, dass eben man keine Quasselbude ist, sondern ein eigenständiges politischen Organ im Gefüge eines EU-Machtapparates und mehr als bloß das Korrektiv der Exekutive?

Selbst für diese Bedenken hatte Ursula von der Leyen was dabei: das Initiativrecht für Gesetzesvorhaben, transnationale Listen und die Festschreibung des Spitzenkandiaten-Prinzips fürs nächste Mal. So würde aus dem Parlament tatsächlich der Taktgeber des Verfahrens – und genau das möchten sie doch sein, die Parlamentarier. Soll man eine Kommissionspräsidentin ablehnen, die genau das fordert und sagt, die wolle das auch gegen Widerstände der Regierungschef durchsetzen? Allesamt schwere Frage, zu denen es bis 18.00 Uhr eine Haltung zu finden galt. Zu dieser ungewöhnlich späten Stunde nämlich war schließlich der einzige Wahlgang angesetzt, einen zweiten würde es nicht mehr geben, hopp oder top.

Schon in der Antwortrunde im Plenum sicherte Manfred Weber die Unterstützung seiner Volksparteien zu. Etwas gekränkt ist er zwar immer noch darüber, dass ihn der französische Staatschef als „unwählbar“ bezeichnete, obwohl er der Spitzenkandidat der gefühlte Wahlgewinner war, was ihn aber nicht daran hindern werde, für die Christdemokratin zu stimmen. Die Liberalen – Macrons Parteigänger darunter – sind ja sowieso für den Wahlvorschlag des französischen Präsidenten, und die spanische Sozialistenführerin schließlich sicherte eine wohlwollende Prüfung der neuerlichen Aussagen der Kandidatin für den Nachmittag zu – die Mitte im Parlaments befand sich bereits im Kompromissmodus.

Die Parlamentsrechte hingegen zeigte sich etwas verstört und verstimmt – aber das gehörte wohl ebenso zur Finte der Ursula von der Leyen, denn wer auf die Mitte schielt, muss klare Worte finden und die fand sie: von den Identitären um den AfDler Meuthen wolle sie auch gar keine Stimmen haben, gab sie kund. Auch der Mann der Lega war nicht mehr so angetan von der ersten Frau auf dem Posten der EU-Kommission wie noch vor Wochenfrist. Und für ein wenig Westminister-Stimmung sorgte unser alter Bekannter Nigel Farage, für den in allen Vorschlägen nur kommunistischen Zentralismus lauerte und schalt seine Kollegen Abgeordnete des Europäischen Parlaments als naiv, wenn sie immer noch nicht kapiert hätten, dass sie in einer impotenten Institution versauerten. Als er auch noch eine EU-Armee kommen sah und die Parlamentarier davor warnte, sie hätten dann über diese Streitkräfte keine Kontrolle, die würden sich die Macrons dieses Kontinents nicht aus der Hand nehmen, „Yeah“ten und „No“ten seine Gefolgsleute wie sonst in London. Für soviel Stimmung konnte auch Martin Sonnenborn nicht sorgen, der auf die Berateraffäre der Verteidigungsministerin aufmerksam machte.

So also zu den Grünen und damit zur Vervollständigung des obigen Satzes „Ja, sooo schlecht war das nicht, aber alles blieb in ihrer schönen Rede nur vage“. So jedenfalls drückte es ihr Co-Fraktionsvorsitzender Philippe Lamberts aus: Kein Wort habe sie verloren über die Biodiversität und die Agrarwende, obwohl doch der Landwirtschaftsetat der größte im EU-Haushalt ist. Nur wohlige Ankündigungen zur Klima und Flüchtlingsfrage. Ja, man habe den Grünen im Vorfeld sogar einen Kommissar versprochen für die Zustimmung zur Kandidatin. Das war eine Beleidigung, denn den Grünen geht es immer zuerst um die Sache, nicht um die Posten.

Und da scheint nicht einmal die Sorge zu schrecken, dass im Falle einer Ablehnung von Ursula von der Leyen die meist konservativen Staatslenker im Rat beim erneuten Versuch einen wesentlich ungrüneren Kandidaten aus dem Hinterzimmer zaubern könnten. Ist das Vertrauen darauf, dass die Grenze zwischen den Volksparteigängern – zu denen etwa auch Orbans Fidesz-Leute gehören – und den Ultrakonservativen oder auch Identitären tatsächlich so dicht ist, dass es nicht zu einer Zusammenarbeit kommen könnte, groß genug?

Was die Grünen meinen, wenn sie von ihrem Beharren auf Inhalte bestehen, konnte man gleich nach der Abstimmung beobachten beziehungsweise einmal mehr belauschen. Da trat ein CDU-Abgeordneter auf einen führenden Grünen zu und es hörte sich an wie eine Bemerkung aus der Steinzeit der politischen Auseinandersetzung in den Zeiten, als der Klimawandel noch wie „Gedöns“ erschien: Wenn ihr nicht für Von der Leyen stimmt und sie nicht Kommissionspräsidentin wird, brauchen wir ja gar nicht so viele grüne Sachen umsetzen – da können einem Grünen schon Zweifel kommen, wie es um die Ernsthaftigkeit in der Volkspartei um die Umsetzung der Ankündigungen ihrer Kandidatin bestellt ist.

Soweit wird es nun nicht mehr kommen können, Von der Leyen ist gewählt, nun bleibt nur noch Rätselraten, wer denn letztlich das Zünglein an der Waage war. Sozialdemokraten? Die Rechten, die vielleicht, die lieber eine wählten, die ihr wenigstens im politischen Alltag noch nicht in die Quere gekommen ist, als jemand anders, von Timmermans, Weber oder gar die nächst wahrscheinlichen Kandidatin Vestager? Doch auch ein Grüner? Geheim ist die Stimmabgabe erfolgt, und nicht jeder will darüber Auskunft geben, vor allem nicht jene, die letztlich den Ausschlag gegeben haben.

Jetzt beginnt die parlamentarische Arbeit und da sollte das Parlament dann wieder ein Parlament sein und wenigstens seine Aufgabe als Korrekturinstrument und Gesetzgeber wahrnimmt – auch damit so ein hoffnungsvoller Jungparlamentarier wie Nico Semsrott nicht in noch tiefere Depressionen verfällt, als sowieso schon. Zutiefst erschüttert war der Satiriker jetzt in einer Institution zu hocken, die sich selbst entmachtet habe. Aber das wird schon, junger Mann, ein wenig Zynismus und man hält selbst das durch – nur mal Nigel Farage fragen…

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