Wenn alle mitreden wollen…

Jetzt, wo jeder und jede eine Meinung zur aktuellen Pandemie hat, wollte auch das Verwaltungsgericht Mannheim nicht nachstehen und kassierte die nächtliche Ausgangssperre in Baden-Württemberg ein.

Natürlich hat eine nächtliche Ausgangssperre etwas Gespenstisches. Aber warum entscheiden Gerichte über eine sanitäre Massnahme? Foto: Nikola Ivanovski, Kumanovski Muabeti / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Die Meinungsmacher zur aktuellen Pandemie sind vielfältig: Politiker, Mediziner, Heerscharen von „Facebook-Experten“ und jetzt auch noch die Gerichte. Der BW-Verwaltungsgerichtshof in Mannheim hat die nächtliche Ausgangssperre im Ländle aufgehoben, da die Richter, allesamt keine Virologen oder Experten für Epidemien, der Ansicht waren, dass angesichts der gerade in Baden-Württemberg sinkenden Zahlen diese Maßnahme nicht mehr angemessen sei. Eigentlich könnte man auch anfangen, die Maßnahmen und deren Durchsetzung auszuwürfeln.

Eine Frau aus Tübingen hatte vor dem Verwaltungsgerichtshof geklagt, da sie der Ansicht ist, dass die nächtliche Ausgangssperre eben nicht mehr passend sei, sinken doch seit einer Woche die Zahlen. Abgesehen davon, dass das Steigen und Sinken der Zahlen seit einem Jahr im ständigen Wechsel passiert, gibt es kein einziges Element, das es erlauben würde, die Pandemie als „im Griff“ zu bezeichnen. Doch das stoppte das Gericht nicht, und nun ist seine Entscheidung auch nicht mehr anfechtbar – ab Donnerstag fällt die nächtliche Ausgangssperre weg und das ist gleichbedeutend mit der Aufforderung, abends wieder um die Häuser zu ziehen. Aber immerhin – mit diesem Urteil schwingen sich jetzt auch die Gerichte zu medizinischen Sachverständigen auf.

Es stimmt – momentan sinken die Zahlen und das ist natürlich eine tolle Nachricht. Doch war es im letzten Jahr immer so, dass wenn man vor lauter Freude schnell wieder alle Maßnahmen gelockert hatte, die Zahlen sofort wieder in die Höhe schossen. Nun gibt es in Deutschland 16 Bundesländer, die alle ihre eigenen, sich teilweise widersprechenden Vorschriften haben. Dabei sollte man besser nicht schauen, was alleine unsere Nachbarländer für Maßnahmen ergreifen, denn dann wird es tatsächlich unmöglich, einen Überblick über die Lage zu behalten. Kurz könnte man sagen, dass nach wie vor jeder macht, was er will und dass bisher keine der Maßnahmen diese Pandemie stoppen konnten. Die irrige Annahme, man könne eine „Sondersituation“ in Baden-Württemberg schaffen, in der sich die Dinge prima entwickeln, während es in den benachbarten Bundesländern und Nachbarländern weiter schwierig bleibt, hat sich leider in den Köpfen der Entscheidungsträger festgesetzt. Covid-19 wird zum politischen Wettbewerb, zu einem sanitären Gemächtvergleich, bei dem es eine große Rolle spielt, seinen Wählerinnen und Wählern mitteilen zu können, dass man die Situation besser managt als andere. Thema verfehlt, Setzen, 6.

Ja, klar, wir leben in einem Rechtsstaat und das ist gut, richtig und wichtig. Nur sollten auch Richter und Richterinnen wenigstens eine Spur von Ahnung von den Dingen haben, über die sie so weitreichende Entscheidungen treffen. Was nützen die Experten-Hearings, was nützen die „Impfgipfel“, was nützen die Ministerpräsidenten-Runden, wenn am Ende die Gerichte entscheiden, was für Maßnahmen zu treffen sind und welche nicht?

Zu einem Zeitpunkt, zu dem nicht einmal die Experten selbst wissen, was gerade passiert und wie sich die Situation weiter entwickeln wird, zu einem Zeitpunkt, zu dem klar ist, dass gerade aufgrund der neuen Mutationen weiter extreme Vorsicht und eine strikte Einhaltung der sanitären Maßnahmen angesagt ist, ist eine richterliche Entscheidung in einem Eilverfahren das falsche Signal. Wir werden nun eine Welle solcher Verfahren erleben, da sich jeder und jede, der oder die sich von den Maßnahmen eingeschränkt fühlt (also alle…) nun berufen fühlt, seine persönliche Meinung zum Gesetz zu machen.

Die „Querdenker“ wird’s freuen. Denn mit dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in Mannheim liegt nun eine Aufforderung auf dem Tisch, in jedem Bundesland gegen alles zu klagen, was einem nicht passt. Nur müssen wir uns irgendwann darüber klar werden, dass wir in dieser Kakophonie der Stimmen und Meinungen, mit 16 verschiedenen Corona-Verordnungen in 16 Bundesländern, keine Chance haben, dieses Virus zu besiegen. Solange eine Pandemie nicht durch richterlichen Beschluss beendet werden kann, sollten die Gerichte das Management dieser sanitären Krise lieber denjenigen überlassen, die sich beruflich damit beschäftigen. Alles andere ist kontraproduktiv bis gefährlich.

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