Zeitgenossen sind wir doch alle – Festival MUSICA im 4. Jahrzehnt

Das erste Festival MUSICA fand 1983 statt und es soll so manche geben, die sich noch daran erinnern können, wie sich Zeitgenossenschaft damals auf der Bühne darstellte. In der 41. Ausgabe dürfen die Alten es den Jungen noch einmal zeigen, wie es dabei einst zuging.

Ober- oder unterirdisch? MUSICA, das Straßburger Festival für zeitgenössische Musik, geht ins vierte Jahrzehnt. So manche Höhen und Tiefen des Zeitgenössischen wurden seither ausgelotet. Foto: Zeichnung, Festival Musica

(Michael Magercord) – Vierzig Jahre Zeitgenossenschaft heißt, so etliche Kapriolen geschlagen zu haben – oder besser: sich um die Ohren schlagen zu lassen, wenn es sich bei dem Gegenstand, der immer auf der Höhe der Zeit sein soll, um Musik handelt. Immer wieder und erneut Zeitgenössisches zu genießen, kann auch dazu führen, dass das einstmals als zeitgenössisch genossene sogar nicht mehr als zeitgemäß gilt, und man als Genosse des einstmals Zeitgenössischen zu einem aus der Zeit gefallenen Zeitgenossen wird.

Ob es so dem „Club83“ auf der anstehenden 41. Ausgabe des Straßburger Festivals für zeitgenössische Musik ergehen wird? Die Gruppe aus Besuchern der allerersten Ausgabe des Festivals vor vierzig Jahren durfte sich an der allerneusten Programmgestaltung beteiligen. Fünf Abende werden die Damaligen gestalten, darunter ein Konzert aus den fernen 80er Jahren, das am originalen Ort und teils sogar in ihrer Originalbesetzung 2023 noch einmal erklingen wird. Für jene, die mit den Namen aus der Urzeit der neuen Musik noch vertraut sind, nur soviel: Ligetti, Xenakis, Boulez.

Wird der klassische Beitrag des Altvorderen-Clubs im Kontrast zum aktuellen Programm stehen? Die Programmacher von heute unterstellen Musikliebhabern im vorrückten Alter eine Nostalgiebehaftung. Nur mal so unter uns „Boomern“, wie wir Älteren im Programmheft ganz zeitgenössisch heißen: Es wird selbst in diesen Konzerten nicht ausschließlich nostalgisch zugehen, denn was schon damals so manchen quer im Ohr lag, klingt für viele auch heute noch schief. Für Stéphane Roth, den noch recht jungen Direktor des Festivals, sind solche Konzert trotzdem von der Frage begleitet, ob sich diese Musik in das kulturelle Erbe eingeschrieben oder einfach nur überlebt hat?

So oder so, es ist ja dafür gesorgt, dass das Festival lebendig bleibt. Denn quasi als Gegenstück zum Club der Alten sorgt die Gruppe „Les Vivantes“ für die ganz aktuellen Programmpunkte. Diese Lebenden oder Lebendigen sind Studenten, die ja heute rundum die Uhr so eifrig zu studieren scheinen, dass man sie im Neudeutschen „Studierende“ nennen muss. Ob ihr Eifer bei der Programmauswahl nicht ebenso von der Frage begleitet wird, was denn einstmals davon Bestand hat? Nein, sagt der Direktor, denn heute sind wir immer nur unterwegs, alles ist und bleibt im Fluss, „fluid“, und wer den Weg mitgeht, der tut dies nicht, ohne sich Gefahren auszusetzen. Zumindest für die Zeit eines Konzerts, solange die Musik oder was wir dafür halten sollen, andauert und uns herausfordert – und sei es nur, um uns in eine unbestimmte Stimmung zu versetzen. Selbstredend werden wir das wohl trotzdem überleben, aber die Überlebenden haben sich in dieser Zeit der Moderne ausgesetzt: dieser Zeit, die immer nach vorne schreitet und nirgendwo ankommt. Technisch offenbart sich dies in der Anwendung der Elektronik und ihren Algorithmen, deren Entwicklung ja auch niemals an einen Endpunkt gelangen wird.

Permanent aufs Neue „Gegenwart schaffen“ nennt man diesen Vorgang, und er soll durch eine tagespolitische Bedeutung der vorgeführten Werke erfolgen. Die Konzerte, oder besser: „Projekte“, sollen immer auch eine Botschaft transportieren, feministische Kritik am Neoliberalismus etwa, und sie sollen „inklusiv“ sein – wobei es erstaunlich ist, wie so manches, was besonders inklusiv sein soll, ziemlich exklusiv daherkommt… Es kann natürlich auch passieren, dass so eine Veranstaltung den Zuschauer und vielleicht insbesondere den Zuhörer einfach kalt lässt. Ob das dann ein untrügliches Zeichen für den Tatbestand der Nostalgie ist?

Mit diesem schönen Wort werden übrigens auch die 200 Konzerte beworben, die ganz besonders exklusiv sind. Denn wie schon im vergangenen Jahr werden kleine Konzerte an zuvor unbekannten Orten für nur einen Zuhörer veranstaltet. Wer daran teilnehmen will, sollte sich allerdings ziemlich schnell um eine Buchung bemühen, die exklusive Zeitgenossenschaft übt großen Reiz auf den zeitgenössischen Kulturkunden aus. Was auch für die fünfzehn Weltpremieren des Festivals gilt, weiß man doch vorher nie, ob man nachher ganz exklusiv bei der einzigen Aufführung eines Werkes dabei war.

Aber was, wenn man bei all der Exklusivität als inklusiv gesinnter Zeitgenosse wirken möchte? Wem das nach der Quadratur eines geschlossenen Kreises klingt, kann sich trösten. Das Schöne an dem Ewig-Zeitgenössischen ist ja die Erkenntnis, dass man selbst in der Falle sitzt, immer per se ein Zeitgenosse zu sein, sich aber trotzdem abseits der Zeit empfinden kann. Ist man nun besonders lebendig, wenn man immer auf der Höhe der Zeit sein will, oder zeigt sich in diesem Ziel nicht schon wieder eine eigene Art der Nostalgie, nämlich jene, die einer ungetrübt fortschreitenen Moderne nachtrauert?

Ja, wir leben in eigentümlichen Zeiten – wobei dieses Privileg vermutlich jede Generation von Zeitgenossen für sich beanspruchte – und wer erkennen und vielleicht sogar genießen will, wie eigentümlich man selber schon ist, für den ist das Festival MUSICA geradezu ein Jungbrunnen.

Festival MUSICA
Konzerte, Veranstaltungen und Events der zeitgenössischen Musik
vom 15. September bis 1. Oktober
an unterschiedlichen Spielstätten in Straßburg und Basel

Eröffnungskonzert
Clipping: Vesper for a New Dark Age / Hoketus
Ensemble Asko-Schönberg
FR 15. September, 20.30 Uhr
Laiterie, Straßburg

Das komplette Programm findet sich unter DIESEM LINK!
Tickets gibt es HIER!

Neue Musik Nein Danke! und trotzdem meloman? Eine hübsche kleine Ausstellung mit Skizzen der eifrigen Musica-Besucherin Véronique Boyer von Konzerten aus vierzig Jahren findet sich im Besucherzentrum des Festivals im ehemaligen Postamt schräg gegenüber der Hauptfassade des Straßburger Münsters.

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