(3) „Hast du Sklaven gehalten?“ – Bericht aus Gorée

Wie weit wirkt Geschichte ins Heute hinein? Welche Konsequenzen muss man jetzt noch aus ihr ziehen? Aus aktuellem Anlass ein Bericht von einer Reise zu einem Ort der Erinnerung an den Sklavenhandel, der in seinem versöhnlichen Grundton auch schon fast wieder Historie ist: Impressionen und Gespräche aus dem eigentlich gar nicht so fernen Jahr 2010.

Zivilisationsmüll ist schön? Ansichtssachen auf Holzplatten aus den Kunstwerkstätten von Gorée. Foto: (c) Michael Magercord

(Michael Magercord) – Die höchste Erhebung von Gorée ist auf ihre Weise ebenfalls historisch. Dort thront eine Geschützbatterie, die die Franzosen installiert hatten. Mit ihrem Abzug am Beginn der Unabhängigkeit des Senegals ließ die scheidende Kolonialmacht die Kanonen unbrauchbar machen. Aus den Rohren kann nicht mehr gefeuert werden – noch ein symbolischer Ort auf der Sklaveninsel, dieses Mal für den Frieden. Eine Künstlerkolonie hat sich um die Batterie niedergelassen: Dichter, Musiker und Bildhauer, die Abfälle zu Kunstwerken recyceln. In diesem dritten und letzten Teil des Berichts von der zehn Jahre zurückliegenden Reise kommt Wadé, ein Müllkünstler von Gorée, zu Wort.

Nach der Schönheit sollte der Mensch streben. Um wieder ein gutes Heute zu schaffen, braucht der Mensch mehr denn je das Schöne. Die Natur ist wunderschön, Gott hat alles geschaffen: das Meer, den Himmel, den Wald, die Bäume.

Auf der Insel Gorée hockt der Dichter in einem Verschlag. Vor ihm die blauen Wogen des Atlantiks und er rezitiert ein Gedicht der Sprache der Wolof. Diese Worte, sagt der Dichter mit der Rastalockenmähne, sind nicht einfach ein Gedicht, diese Reime sind ein Symbol, ein Symbol nämlich für die Einheit der Menschheit. Wunderbar, staunt der von weither angereiste Zuhörer und fragt, was sie denn nun besagen, diese Zeilen? Ein Symbol sei das Gedicht, wiederholt der Dichter und hüllt sich ab sofort in Schweigen.

Der Mensch lebt, konsumiert, er produziert, produziert viel, sogar manchmal zu viel, viel zu viel. Die Produktion steigt exponentiell. Man sollte ein wenig innehalten. Lasst die Natur ruhig mal was machen. Das ist die Botschaft unseres Kunstschaffens: Die Welt ein wenig zu weit gegangen. Der Geist muss sich wieder besinnen, um nach anderen Wegen zu schauen, als dieses exponentielle Wachstum und die Überproduktion zu verfolgen. Sie sollte nur noch produzieren, was sie wirklich braucht. Afrika hat noch nicht allzu viel verbraucht. Das kann man von Afrika lernen und die Industrie anders denken.

Gesprächiger als der Dichter sind die Kunstwerke, die einer seiner Künstlerkollegen erstellt. Und zwar aus Abfall: Mobiltelefone, Gürtelschnallen, ein Salzfass, Steckdosen, eine Armbanduhr – und als Kopf ein Stein, ein Kopfhörer oder ein Löffel – die Bild-Collage aus weggeworfenen Dingen zeigt die heimliche Immigration von jungen Afrikanern in kleinen Booten nach Europa. „Das sind Menschen, die ins Meer gefallen und ertrunken sind“, erklärt der junge Mann, der seine Rastalockenmähne mit einer der rot-gelb-grünen-Rasta-Wollmütze zähmt. “Aber die Flucht übers Meer ist keine Lösung“, sagt er, „wir Afrikaner brauchen unsere Lösungen“. Deshalb habe er dieses Bild gemacht, damit alle verstehen, dass für jeden einmal seine Zeit kommt. Warten muss man können, „wenn du aber alle Schranken durchbrechen willst, riskierst du viel und gewinnst nichts“.

Aus den Mülltonnen kommt alles, was wir für unsere Bilder nutzen. Das Weggeworfene verwenden wir, damit es wieder einen Nutzen hat, denn Nutzen ist eine Art von Schönheit. Für unsere Kunstwerke ordnen wir zwanzig bis dreißig verschiedene von den Menschen benutzte Elemente auf einer Holzplatte zu Kompositionen, um eine innere Schönheit zu erzeugen. Schönheit ist nicht nur Ästhetik, Schönheit ist Handeln, man muss gut sein, um Schönes zu schaffen. Schönheit ist eine Belohnung für das Gute.

Der Rastamann macht aus Müll Kunst. Er durchforstet die wilden Abfallhalden und Schrotthaufen der Millionen-Metropole Dakar und bringt den Zivilisationsmüll nach Gorée. Er sagt: „Das moderne Leben ist nicht fantastisch, in Dakar findest du allen Unfug“. Wadé ist ein Müllkünstler. Von seiner einfachen Hütte hat er die Skyline des nahen Dakars im Blick, den Herkunftsort ihres Kunstmaterials.

Wir sammeln all die Dinge ein, die von Menschen verbraucht worden sind und versetzen sie in einen neuen Zustand. Eigentlich war ihre Zeit abgelaufen, aber wir führen sie wieder zurück in den Lauf der Zeit, um unserer Zeit Schönheit zu geben. Es ist die Tradition, die uns zur Moderne gebracht hat: Wir benutzen die Produkte unserer Zeit, denn wir können nicht rückwärts gehen. Aus diesen verbrauchten Produkten der Moderne machen wir eine Figur, doch alles, was wir benutzen – Scheren, Mobiltelefone – drückt unser traditionelles Denken aus: nämlich einzig von und mit unseren eigenen Mitteln zu leben, immer entsprechend unserer Wurzeln und der bereits vorhandenen Ressourcen.

Die Müllkünstler leben auf der höchsten Erhebung der Insel, gleich an der Geschützbatterie. So manche von ihnen haben sich in den alten Bunkeranlagen eingerichtet, die die Franzosen zur Verteidigung ihrer Kolonie dort errichtet hatten. Das Rohr der gewaltigen Kanone haben die Müllkünstler zugeschweißt – noch so ein Ding, das erst durch den Eingriff der Künstler ein klein wenig Sinn bekommt, wenn auch nur dadurch, dass uns seine Sinnlosigkeit symbolisch vor Augen geführt wird.

Wenn wir das ganze sinnlose Zeug nicht wieder nutzen würden, müsste man den Müll noch auf die Sterne schießen. Ja, wir nehmen nun all den Abfall, den diese Überproduktion hinterlässt, und machen aus dem Müll etwas Schönes. Aber es gibt Dinge, die von der Natur abfallen und mit denen wir auch was Schönes machen können. Diesen Dreck könnten wir jederzeit durch etwas anderes aus der Natur ersetzen. Es gibt genug Müll, es reicht, bei Gott!

Bei Gott oder wem auch immer – das war der Reisebericht von der senegalesischen Insel Gorée, wo das Sklavenhaus steht, das als Symbol für die Unmenschlichkeit des Sklavenhandels steht; wo ein Sandmaler die Moderne mithilfe der afrikanischen Tradition vor sich selbst bewahren will; wo Künstler aus Zivilisationsmüll symbolische Kunst machen; und wo der Dichter seine unerklärten Worte als Symbol für die Einheit der Menschheit verstanden wissen will. Und ist dieser zehn Jahre alte Bericht nicht selbst auch ein Symbol? Nämlich dafür, dass der heute so jäh aufgebrochene Konflikt um Geschichte und ihre Wirkung aufs Heute, sich im Grunde an einer ganz anderen Linie abspielt, als an jener, an der er jetzt so vehement ausgetragen wird?

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