Der Astrologe in der Halle des Volkes

Seit vorgestern tagt 19. Volkskongress der Kommunistischen Partei Chinas – und die ganze Welt schaut gebannt in die Volksrepublik: Wer wird der Wachstumsnation für die nächsten fünf Jahre die Richtung vorgeben?

Professor Victor Shih analysiert im Gespräch mit Michael Magercord, was beim Parteikongress in China herauskommen kann. Foto: privat

(Von Michael Magercord) – In den Zeiten des Kalten Krieges sprach man von „Kreml-Astrologie“, wenn es darum ging zu ergründen, wer wohl am nächsten Parteitag der KPdSU die Oberhand über Staat und Partei gewinnen werde. Doch vielmehr als Spekulationen waren dabei kaum herausgekommen. Trotzdem versucht sich nun der aus Hongkong stammende Politikwissenschaftler Victor Shih daran, die Ergebnisse des 19. Parteitages der KP Chinas vorherzusagen – allerdings nicht mehr, indem er die Roten Sterne deutet, sondern mit Hilfe seiner systematischen Datensammlung und –aufbereitung. Victor Shih ist Professor für politische Ökonomie und lehrt an der School of Global Policy and Strategy an der Universität San Diego. Ein Gesprächsprotokoll.

Victor Shih: Was ich so sehr an der chinesischen Politik liebe, sind die Überraschungen. Manchmal gibt sehr große Überraschungen.

Eine Woche dauert der 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas. Am seinem Ende in fünf Tagen werden die 2.200 Delegierte des Nationalen Volkskongress das 220-köpfige Zentralkomitee bestimmen. Dieses wiederum wird die 25 Mitglieder des Politbüros wählen, von denen sieben Vertreter dessen Ständigen Ausschuss und damit die oberste Führungsriege der Volksrepublik China bilden. Wer wird in die engsten Führungszirkel schaffen? Wer verbleibt dort oder stürzt wieder ab? Umfragen gibt es nicht und trotzdem will der aus Hongkong stammende Politikwissenschaftler der Universität San Diego das Unmögliche versuchen und das Ergebnis vorhersagen. Allerdings nicht ohne Selbstzweck: Victor Shih will vor allem ergründen, warum es jemand nach oben schafft.

Victor Shih: Mein Ziel ist es systematische Daten zu sammeln über die chinesische Elite und ihre Aktivitäten. Dazu erhebe ich Daten aus ihren Biografien, aber ich benutze auch Zeitungsartikel. Ich versuche so ihre Aktivitäten nachzuzeichnen und zu sehen, was sie jede Woche tun. Diese Daten erlauben es uns dann, wie ich glaube, wichtige Rückschlüsse auf die politischen Prozesse in China zu ziehen. Meistens betrachten wir autoritäre Politik als etwas sehr Mysteriöses, als Blackbox. Aber ich denke, auch in autoritären Systemen wird „Politik“ gemacht, und wie Demokratien gehorcht auch sie einer gewissen Logik.

Um dieser Logik auf die Spur zukommen, reist Victor Shih regelmäßig nach China. Er spricht mit Parteimitgliedern oder Kollegen, um zu erfahren, was in den inneren Zirkeln der Macht vor sich geht. Allerdings widersprächen sich diese mündlichen Quellen oft. Deshalb erfasst er seit 20 Jahren zudem systematisch biografische Daten über die politische Elite. Dabei stützt er sich auf eine absolut zuverlässige Quelle, eine, in der nichts rein zufällig, ganz ohne Absicht erscheinen würde. Sie ist zudem alles andere als geheim, sondern erscheint tagtäglich in einer Auflage von zweieinhalb Millionen Exemplaren – ohne dass allerdings allzu viele Menschen von ihr Notiz nehmen würden: die „Renmin Ribao“, die „Volkszeitung“ direkt aus dem Pekinger Hauptquartier der Partei.

Victor Shih: Die Volkszeitung ist eine großartige Quelle, wenn man erfahren will, was die Elite zueinander sagt. Kein Chinese liest die Volkszeitung wirklich, außer den Regierungsoffiziellen. Sie erhalten aus ihr die neusten Anweisungen des Genossen Xi Xinping, erfahren aber auch, wer ein politisch aufsteigender Star ist oder welche ideologische Richtung die Partei einschlägt. Per Definition hat die Volkszeitung ja immer Recht. Auch wenn darin etwas steht, das vielleicht unwahr ist, ist es wahr in der Art, dass über diese „alternativen Wahrheiten“ versucht wird, eine politische Botschaft an die Chinesen und die Parteimitglieder zu vermitteln. Also selbst wenn es nicht wahr ist, ist es wichtig, denn darin steckt trotzdem eine bedeutende Information.

Alle fünf Jahre findet der Parteitag statt, zwei konnte Victor Shih in den zehn Jahren schon beobachten und dazu noch etliche lokale Parteitage verfolgen. In diesem Herbst stehen weitreichende Veränderungen an, allein 20 der 25 Politbüro-Mitglieder müssen neu bestimmt werden, da die bisherigen Vertreter die vorgeschriebene Altersgrenze von 68 Jahren überschritten haben. Nach welchen Kriterien aber werden die Neubesetzungen vollzogen? Welche Faktoren entscheiden über den Aufstieg in die Führungszirkel der Partei und damit des Staates?

Victor Shih: Soweit wir aus der Analyse unserer Daten schließen können, ist von den Variablen, die über der Aufstieg oder die Berufung in die oberen Sphären der Partei, also in das Zentralkomitee und dann weiter vom Zentralkomitee in das Politbüro entscheiden, einmal das Alter sehr wichtig. Man darf weder zu jung sein, noch zu alt. Wenn Sie älter als 60 sind, ist Ihre Chance auf eine Berufung sehr gering. Das Geschlecht ist wichtig, also Mann zu sein, denn es gibt nur sehr wenige Frauen in der Führung. Auch der Minderheitenstatus ist wichtig. Bildung hingegen ist nur bis zu einem bestimmten Punkt ausschlaggebend. Ein Universitätsabschluss ist wichtig, aber es ist nicht sehr hilfreich, noch einen Doktortitel erlangt zu haben, obwohl alle danach streben. Auch Leistung ist nicht entscheidend. Der wirklich entscheidende Faktor ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fraktion. Eine frühe Arbeitsbeziehung zu einem der jetzigen Spitzenpolitiker gehabt zu haben, ist ausschlaggebend für die weitere Karriere. Verbindungen zu jemandem hingegen, der bei einer Säuberung zum Opfer fiel, wie offensichtlich Zhou Yongkang, oder auch jemanden, der friedlich in den Ruhestand gegangen ist, wie Hu Yintao, kann sehr schädlich sein.

Um in Zukunft einmal so genau wie möglich die Ergebnisse von Parteitagen und das interne Stühlerücken in der Partei vorhersagen zu können, will Victor Shih vor dem 19. Parteikongress drei Hypothesen mit unterschiedlichen Gewichtungen der Variablen durchspielen, um diese dann schließlich mit dem Ergebnis abzugleichen und daran wiederum die Vorhersagequalität für die kommenden Wahlen zu schärfen. Er hat es auch schon mit maschinellen Lernsystemen wie Randomforce oder KNN versucht, doch sind die Zeitabstände einfach zu groß, in denen neue, korrigierende Daten in die Systeme einfließen.

Victor Shih: Wir haben nun drei Theorien, die uns als Vorhersage-Modelle dienen, die wir für diesen Parteitag durchgespielt haben. Einmal gilt die Annahme, die Berufung ins ZK hänge ausschließlich von der Leistung und Bildung der Kandidaten ab. Das zweite Modell geht davon aus, alle aktuellen Politbüromitglieder verfügten über den gleichen Einfluss für die Neubesetzungen im Politbüro, das sogenannte Machtausgleichs-Theorie. Schließlich hebt das dritte Modell darauf ab, dass der Generalsekretär Xi Jinping den gesamten Prozess dominiert. Die drei daraus resultierenden Voraussagen zur Besetzung der Posten gleichen wir dann mit den Ergebnissen ab und sehen dann für Zukunft, welches Modell der Wahrheit am nächsten kommt.

Nun ließe sich einwenden, ob man damit letztlich dem eigentlich Ziel, dem politischen System der Volksrepublik China und der zukünftigen Richtung der Politik mit dem Wissen um die Besetzung der Führungsriege der Partei überhaupt nahe kommt? Spielen heutzutage nicht ganz andere Faktoren die entscheidende Rolle, nämlich die wirtschaftlichen? Victor Shih hat, bevor er sich der politischen Elite zuwandte, genau das getan: Finanz- und Bankensystem und den Einfluss der Schuldenlast auf politische Entscheidungen erforscht, oder einen Zusammenhang zwischen den Richtungkämpfen in der Partei und der Inflationsentwicklung gesucht – alles, ohne allerdings eine hinreichende Erklärung für die Vorkommnisse in China gefunden zu haben.

Victor Shih: Wirtschaftswissenschaftler haben herausgefunden, dass je autoritärer ein Land regiert wird, desto mehr hängt die Entwicklung von den Führungspersönlichkeiten ab. Auf China trifft das zu. China wird ziemlich autoritär regiert, und wer dort gerade der Führung innehat, bestimmt die politische Richtung. Xi Jinping zeigt sich als jemand, der wirtschaftlich sehr konservativ ist. Er spricht von Reformen, aber tatsächlich genießen staatliche Unternehmen weiterreichenden Schutz. Vor seiner Zeit wurde damit begonnen, das Finanzsystem zu reformieren, aber viele der Reformen wurden von ihm nun erst einmal aus Eins gelegt. Der Schwerpunkt der Partei liegt unter ihm auf der gesellschaftlichen Stabilität. Stabilität wurde somit zum Schlüsselziel für alle, die im Regime tätig sind. Und was immer die Prioritäten des Führers eines autoritären Regimes sind, sie werden zu den Prioritäten des ganzen Landes, nicht nur der Regierung, sondern auch der staatlichen Unternehmen und Finanzinstitute, die von der Partei kontrolliert werden. Die Partei ist nach wie vor von entscheidender Bedeutung für Politik und Wirtschaft und deshalb sind ihre Führer sehr sehr einflussreich.

Also, dann – welche Ergebnisse wird der 19. Partei-Kongress zeitigen? Vor fünf Jahren hatte sich der jetzige Generalsekretär und Staatspräsident Xi Jinping mithilfe seines Fahrensmannes Wang Qishan, dem Chef des Antikorruptionskomitees, etlicher Rivalen mithilfe des Vorwurfs der Vetternwirtschaft im Vorfeld entledigen können. Die sind völlig in der politischen Versenkung verschwunden. Dennoch konnte Xi damals nicht sehr viele seiner Gefolgsleute im ZK und Politbüro platzieren. Seither hat der Staats- und Parteichef einen sehr autoritären Führungsstil gepflegt, der Parallelen zu Mao erkennen lässt, und nun stehen allein im 7-köpfigen Ständigen Ausschuss fünf Neubesetzungen an – wird Xi Jinping seine Macht also festigen oder regt sich parteiinterner Widerstand?

Victor Shih: Alles ist möglich und sicher gibt es einige Rangeleien im Verborgenen, aber ich denke, dass Xi Jinping den Kongress dominieren wird. Viele der neuen Politbüro-Mitglieder werden seine Anhänger sein. Es sieht danach aus, als habe er die Kärrnerarbeit zur Einflussnahme auf die Grundausrichtung der Partei zumindest in den oberen Etagen erledigt. Jetzt käme es darauf an, ob trotzdem jemand wagt, seine Dominanz in der Partei herauszufordern. Wenn, dann wird das niemand aus der Fraktion von Hu Jintao sein, aber vielleicht ausgerechnet Wang Qishan, der Chef des Antikorruptionskomitees der Partei. Eine meiner Grafiken zeigt, wie Wang Qishan bereits die Gunst seiner Position genutzt hat, um mehrere seiner Anhänger in Schlüsselpositionen der Partei unterzubringen. Wenn ich Xi Jinping wäre, würde mich das sehr beunruhigen. Aber ich bin ja nicht Xi Jinping, wer weiß, was der denkt.

Er sollte die Analysen von Victor Shih lesen.

Victor Shih: Vielleicht tut er oder jemand aus seiner engsten Umgebung das ja, wer weiß…

Informationen und Kontakt zu Victor Shih unter:
https://gps.ucsd.edu/faculty-directory/victor-shih.html

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