Notwendige Investition in die Integration

Es sollte eine Strafe sein, eine Lehre fürs Leben, ein Ruf zur Ordnung – und ich gebe zu, das ist es auch. Hilft aber trotzdem nicht, ich bleibe disintegriert und bilde mir weiterhin ein, genau deshalb erst recht integriert zu sein.

Rote Ampeln, das sind staatstragende Bauwerke, die zu respektieren sind. Basta. Foto: dronepicr / Wikimedia Commons / CC-BY 2.0

(Michael Magercord) – 45,- Euro Strafe – ziemlich happig. Doch sind sie nicht sehr gut angelegt, wenn es um den Zusammenhalt der Gesellschaft geht? Denn dazu habe ich nun meinen Beitrag geleistet, oder anders gesagt: ich bin über eine rote Ampel gefahren, eine knallrote wohlgemerkt. Weit und breit war niemand, der die Fahrbahn mit mir teilen wollte in diesem Moment. Mit mir und meinem Fahrrad wohlgemerkt. Bis auf die zwei Beamten der Stadtpolizei. Und das geschah in Frankreich wohlgemerkt, also fast jedenfalls, in Straßburg nämlich.

Bisher kannte ich derartige staatstragende Maßnahmen nur von der anderen Rheinseite. Dort haben mich die Staatsorgane bereits zweimal an dem großen gesellschaftlichen Ordnungsprojekt teilhaben lassen. Zum ersten Mal, da war ich vielleicht gerade mal siebzehn Jahre alt und überfuhr in meiner kleinen Heimatstadt mit dem Rad eine nächtlich leere Rot beampelte Straßenkreuzung. Doch weit am Horizont bewegte sich ein Lichtkegel und klar, das war die Bullerei… Oh Entschuldigung, bloß keine nachträgliche Beamtenbeleidigung, ihre Tat ist ja schon lange verjährt. Und natürlich zahlte ich die fälligen 20 Mark ohne Murren. Also fast ohne Murren. Vielleicht nur so was wie: „Ist das hier ein Kindergarten oder was?“. Das zweite Mal geschah es gut zehn Jahre später in Berlin, den Zahlungsbeleg habe ich noch, 10 Mark für Fahrrad fahren auf dem Gehsteig. Ein bulliger Kontaktbeamter versperrte den Weg und wieder zahlte ich ohne Murren, nur so was wie: „Was besseres habt ihr wohl nicht zu tun? Und das noch mit Pensionsanspruch!“

Zugegeben, ich hatte mich von dieser staatlichen Maßnahme immer veralbert gefühlt. Als nicht ernst genommen. Von oben herab behandelt. Entmündigt. Wie ein Kleinkind, das vor sich selbst geschützt werden muss. Nicht gerade, was einen Staatsbürger ausmacht. Und auch nicht, was einen Staat ausmacht. Denn wen gefährde ich damit? Einzig und allein mich selbst, den mündigen Bürger. Kurz: eine staatliche Maßnahme, die mich vom Staat entfernte.

Aber halt! Steht es denn tatsächlich so einfach? Regeln sind für alle da, nur ihre gnadenlose Einhaltung, hat schon Immanuel Kant vor über zweihundert Jahren gesagt, garantiert den Staat. Sich ihnen zu unterwerfen ist die Mutter des geordneten Zusammenlebens. Man nennt diesen Akt der Unterwerfung heutzutage übrigens „Integration“, und darin war Deutschland sehr erfolgreich, erfolgreicher jedenfalls als Frankreich mit seinen unkontrollierbaren Vorstädten – und zwar nur deshalb, weil dort eben insbesondere auf diesen und vielen anderen banalen alltäglichen Regeln regelgerecht herumgeritten wird. Soziale Kontrolle nennt man das, sie zwingt uns alle jederzeit korrekt zu handeln, ob nun beim Überqueren der Straße an beampelten Kreuzungen oder bei der Mülltrennung. Ausnahmen werden bei dieser Form der Integration nicht gemacht, und sie ist wirkungsvoller, prägender und übrigens auch härter, als jeder noch so hochtrabende Diskurs über Werte, Tugenden und Respekt oder die Forderungen nach der Achtung abstrakter, republikanischer Ideale.

Ja, so ist es, der Fehler liegt also bei mir: wenn ich weiter so bockig bin, mache ich mich letztlich auch schuldig, wenn die Integration misslingt. Aber ich bin ja einsichtig, und so freut es mich, dass diese Art der Kindergarten-Polizeimaßnahmen nun endlich auch im Elsass ihre Anwendung finden. In diesem Frankreich, wo doch sonst nur der große Diskurs gern gepflegt wird, der kleine, der schließlich alltägliche Folgen zeitigen würde, aber bisher eben nicht. Für den falschen Glauben, dass es in Frankreich doch niemals soweit kommen könne, habe ich nun die Quittung mit der Nummer G698171 bekommen. Direkt vom Quittungsblock der Französischen Republik. Ausgefüllt vom Beamten der Stadtpolizei aus der Abteilung SOPSR/USR mit der Dienstnummer 475027.

Es geschah an der Kreuzung am Porte de l’Hopital. Dort überfuhr ich die rote Fußgänger- und Fahrradampel, als kein Auto mehr in Sicht war. Doch Nummer 475027 und sein junger Kollege verbargen sich geschickt in einem Bushäuschen und versperrten mir den Weg zur freien Weiterfahrt. Dann klärten sie mich auf über meine Widrigkeit gegen die Straßenverkehrsordnung R412-30, versicherten mir, dass diese Regelverletzung mir jenseits des Rheins um einiges teurer zu stehen gekommen wäre. Und schließlich erspähte 475027 mit den Argusaugen einer Aldi-Kassererin in meinem Portemonnaie, dass ich über ausreichend kleine Scheine verfügte, um sofort bezahlen zu können.

Ach welch süßes Gefühl, dem gelungenen Zusammenleben der Gemeinschaft einen Dienst erwiesen gehabt haben zu dürfen. Ein Bravo dafür diese gelungene Aktion „Kindergarten für alle“. Endlich auch in Frankreich, endlich Zucht und Ordnung. Nehmt nur mein Geld, sauer verdient habt ihr es euch ja, dafür aber redlich! Nur eine kleine Anmerkung sei erlaubt: wie steht es um all diese Falschparker, die immer die Fuß- und Fahrradwege zu stellen? Dem gegenüber herrscht wohl doch noch das berühmte französische „laissez faire“ oder? Denn immerhin habe ich durch meinen Akt der Ordnungswidrigkeit nur mich selbst gefährdet, die rücksichtslosen Falschparker nerven hingegen ihre Mitmenschen… Oh nein, beschwichtigt der junge Kollege von 475027, sowas verfolgten sie ebenfalls jeden Tag! Na dann bin ich ja beruhigt, dann kann es wohl doch noch was werden mit der Integration von diesen Lümmeln in ihren BMWs, Audis und Porsche-Cayennes.

Und so machte ich mich wieder auf den Weg, froh, meinen Beitrag zum geordneten Zusammenleben geleistet zu haben und um die Erkenntnis reicher, dass so, wie jede Verwüstungstat eines jugendlichen Delinquenten ein offener Schrei nach Liebe ist, sich wohl hinter jeder kleinen Zuwiderhandlung ein Akt der Integration in eine höhere Ordnung verbirgt.

Eine Ordnung allerdings, die auf Respekt beruht, so auf diese Art: Ich mache, was ich will, solange ich niemanden damit nerve – und anders herum bitte schön auch. Und wer dann trotzdem nervt, wird daran halt auch mal erinnert. Der gute alte Kant hatte dieses gute alte Ordnungsprinzip schon einmal aufgegriffen, nannte es den „Kategorischen Imperativ“. Und klar, auf den Alltag kommt es dabei in erster Linie an, fern der großen Diskurse. Aber im staatlichen Handeln könnte man den auch mal anwenden. Also immer schön einen wichtigen staatlichen Eingriff vom unwichtigen scheiden. Zumindest im Straßenverkehr wäre nichts leichter als das: lasst mich, liebe Ordnungshüter, einfach in Ruhe bei Rot über die Ampel radeln, wenn’s doch keinen stört, aber sorgt dafür, dass die ohnehin schon ziemlich schmalen Rad- und Fußwege nicht noch zugeparkt werden.

Ich mich also wieder unter die Radfahrer, gemeinsam radelten wir munter bei Rot rüber. Seither habe ich mindestens hundertfünfzig weitere Ordnungswidrigkeiten zu 45,- Euro begangen. Und die Falschparker auch. Schnell machte sich also Enttäuschung breit, denn selbst an der Kreuzung, wo ich ertappt wurde, tauchten 475027 oder irgendeiner seiner Kollegen nicht mehr auf. So wie der Schrei des Delinquenten nach Liebe meist unerwidert bleibt, so verhallten meine heimlichen Schreie nach der Integration in eine höhere Ordnung des gegenseitigen Respekts ungehört.

Ich war übrigens die letzten Tage auch einmal wieder jenseits des Rheins unterwegs, in dem doch so geordneten Nachbarland. Dort, wo schon der Fußgänger zum Verbrecher wird, wenn er bei einer roten Ampel gähnend leere Straßen quert. Wieder einmal verplemperte ich kostbare Lebensminuten an Ampeln. Tote Zeit – aber dort kann man sich das ja auch leisten. Dort herrscht ja auch Ordnung. Nur einmal ging ich dann doch wieder bei Rot rüber, zu Fuß wohlgemerkt, und siehe: ich wurde von einem anderen Fußgänger ermahnt. Und das auch noch von so einem Migrationshintergründler. Einem, der allerdings bestens integriert zu sein scheint, denn er kam gleich mit über die Straße. Bei Rot wohlgemerkt.

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  1. Rheinoper Straßburg: Verbote gehören verboten! | Eurojournalist(e)

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