Achtung vor Geschichten – Parzival in der Rheinoper

Eine der großen Erzählungen der Menschheit kommt als Oper auf die Bühne in Straßburg. Wie universell der Mittelalter-Roman Parzival ist, wird der japanische Regisseur Amon Miyamoto uns beweisen – und was er mit uns macht, wenn ein Richard Wagner sich seiner annimmt.

Parzival auf Japanisch - irrationale Weltwahrnehmung in Akt 2. Foto: Klara Beck / OnR

(Von Michael Magercord) – Heute erzählen wir uns nur noch Geschichten. Auch Journalisten erzählen nichts anderes als Geschichten. Zumindest, wenn es nach ihren Redaktionsleitern und Verlagsdirektoren geht, sollen selbst Berichterstatter vor allem Geschichtenerzähler seien. Ihre Frage an den Reporter lautet nicht mehr, welches Thema er bearbeiten wolle, sondern: „Welche Geschichte wollen Sie erzählen?“

Einstmals herrschte unter Journalisten noch der Anspruch, möglichst „objektiv“ zu sein, doch nun ist die Welt nichts weiter als eine Story und jeder erzählt sie auf seine Weise, „subjektiv“ also. Ist es nicht eine Illusion, Objektivität überhaupt anstreben zu können? War es nicht ein Irrweg der Aufklärung, auf Biegen und Brechen über den Dingen, von denen man berichtet, stehen zu wollen? Bieten „Geschichten“ nicht den wahren Zugang zum Wesen der Welt? Aber ist andererseits nicht jede Verschwörungstheorie zuallererst ein gute Geschichte, die Story somit die Mutter der Fake News? Höchste Zeit also, sich die Wirkung von Geschichten einmal wieder bewusst zu machen – und warum nicht anhand einer der ganz großen Geschichtserzählung der Menschheit?

Ausgerechnet auf den Brettern, die ja die Welt doch nur bedeuten sollen, wird der Versuch unternommen, die Macht von Geschichten auf die Wahrnehmung der Welt aufzuzeigen. Ausgerechnet an der Rheinoper von Straßburg, wo uns doch immer die schönsten Geschichten erzählt werden. Und ausgerechnet mit der Neuinszenierung einer Oper von Richard Wagner, der eine ganz besondere Suggestionskraft nachgesagt wird.

Parzival, die Verserzählung aus dem Mittelalter mit der Geschichte über Verstrickungen von Gralshütern und Gralssuchern, bildet den mythischen und mystischen Stoff, mit dem Wagner die Rettung der religiösen Werte durch die Kunst betrieb. Fast schon folgerichtig verlegt der Regisseur in Straßburg die uralte Geschichte in ein Museum für Gemälde alter Meister und fügt dem Rollentableau des Librettos zwei Figuren hinzu: Die Restauratorin der Museumswerkstatt und ihren zehnjährigen Sohn, dem sich durch die Betrachtung der Bilder, die sich Maler von der religiösen Erzählung gemacht haben, ganze Geschichten offenbaren.

Religiöse Erzählungen von Ergriffenheit und Erlösung sind immer auch universelle Geschichten, die in allen Kulturen eine Heimat haben. Wer wüsste das nicht besser, als der japanische Regisseur dieses Straßburger Parzivals. Amon Miyamoto hatte an gleicher Stelle bereits die Oper „Tempelbrand“ inszeniert. Da war er noch den umgekehrten Weg gegangen: mit einer Geschichte aus dem Fernen Osten den Zwiespalt des universellen Wertes der Schönheit aufzuzeigen. Nun wird er über die christlich unterlegte Erzählung die Universalität der Macht des Geschichtenerzählens auf die Struktur des menschlichen Denkens darstellen.

Vielleicht muss ja erst ein Mann aus Japan kommen, um mithilfe einer Wagneroper die strukturierende Kraft von Geschichten in unserem Denken aufzudröseln. In Japan wird einer besonders interessanten Variante der Wagnermanie gefrönt, die der heimlichen Rebellion nämlich. Die Musikologin Elfi Vomberg erklärt es so: Japaner verstecken ihre Emotion, es gilt als ungeziem, sich ihrem Sog zu ergeben. Das buddhistische Erbe der Aufmerksamkeitslehre des Zen verlangt, in jeder Situation den klaren Geist zu bewahren und sich nicht die Welt vernebeln zu lassen. Denn ein klarer Geist erst macht uns klar, wie vernebelt diese Welt letztlich ist. Wagner aber steht geradezu für das Gegenteil: die emotionale Vernebelung der Welt durch ein übermächtiges Gesamtkunstwerk. Wagner zu hören, sei, so die Musikwissenschaftlerin, also eine Demonstration gegen die verspürte Emotionslosigkeit im Land der aufgehenden Sonne und wirke darin wie ein „Antidepressivum“.

Dabei heißt es doch oft, Richard Wagner wäre selbst Buddhist gewesen. Denn las er nicht die Bücher von Arthur Schopenhauer, der als Göttinger Medizinstudent zur Philosophie fand und schließlich viele Aspekte seiner Lehre aus der asiatischen Erleuchtungsreligion bezog? „Die Welt als Wille und Vorstellung“ heißt dessen Schlüsselwerk über das grundsätzlich irrationale Prinzip unserer Wahrnehmung. Und darin steht, was eine Wagneroper auf der Bühne nachvollzieht: Die objektive Welt ist für ein Subjekt nur als vage Idee zu erfassen. Doch da kommt die „Geschichte“ in die Welt: denn die Art, wie wir uns die irrationalen Wahrnehmungssubstrate erzählen, formt schließlich die Welt. Diese Geschichten strukturieren unser zwangsläufig nur tastendes Denken und geben vor, auf welchen Vorstellungen unser menschliches und gesellschaftliches Zusammenleben letztlich basiert.

Also Achtung vor Geschichten! Für Redakteure, die uns die Welt in ihren Medien erzählen wollen, sollte diese Warnung ganz besonders gelten und sie an einen sorgsamen Umgang mit unserer unabänderlichen Irrationalität gemahnen. Und für uns hier in Straßburg? Wir nutzen jetzt diese wunderbare Gelegenheit, uns im vollen Bewusstsein unserer Irrationalität hinzugeben. Denn dafür gibt kaum ein wirkmächtigeres Mittel als die Oper Parzival von Richard Wagner. Und übrigens, auch die suggestiven Wirkungsmethoden passen sich an die letzten Endes ja auch nur wahrgenommene und erzählte Geschwindigkeit der Welt an, wie uns die nackten Zahlen beweisen: Betrug nämlich die gemessene Vorführungslänge des Parzivals in Bayreuth 1931 bei Toscanini noch knapp fünf Stunden, dauerte es bei Pierre Boulez 1967 nur noch gut dreieinhalb Stunden, um dieselbe Geschichte zu erzählen. Und wie lange dauert es, wenn diese Geschichte nun als Geschichte in der Geschichte erzählt wird?

Parzival – Richard Wagner
Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen (1882)

Neuproduktion der Rheinoper Straßburg und der Tokio Nikikai Opera Foundation
Regie: Amon Miyamoto
Musikalische Leitung: Marko Letonja
Philharmonie Straßburg
Chöre der Opern Straßburg und Dijon

Straßburg / Opéra
SO 26. Januar, 15 Uhr
MI 29. Januar, 18 Uhr
SA 01. Februar, 18 Uhr
DI 04. Februar, 18 Uhr
FR 07. Februar, 18 Uhr

Mülhausen / La Filature
FR 21. Februar 20 Uhr
SO 23. Februar 15 Uhr

Information und Tickets: www.operanationaldurhin.eu

Weitere Veranstaltung:
Rezital
Patricia Petibon – Sopran
Klavierbegleitung: Susan Manoff
Oper Straßburg
SA 5, Februar, 20 Uhr

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