Am I Europe?

Im TNS Strasbourg dürfen wir älteren Europäer erfahren, welche Bürde es ist, jung zu sein und in Europa zu leben. Und dass Europa eine Frage der Haltung ist.

Jugend, Europa. Europa, Jugend. Aber wie geht's weiter? Foto: Jean-Louis Fernandez / TNS

(Michael Magercord) – Worum es geht, bleibt selbst für jene, die es darstellen, im Vagen: Acht junge Schauspieler aus den unterschiedlichsten Ländern, von denen sich keiner einer Nationalität zugehörig fühlt, bestenfalls gleich mehreren. Oder einer, die gar nicht mehr existiert. Klar ist nur dies: sie alle sind Europa, denn sie alle sagen: „I am Europe“.

Unter diesem Titel nämlich haben die jungen Europäer unterschiedlichster Herkunft seit 2014 ihre Gedanken über den Kontinent, in dem sie alle leben, zusammengetragen und unter der Ägide des deutschen – doch ja: deutschen – Regisseurs Falk Richter, der sich vor allem im deutschen – ja doch: deutschen – Regietheater einen Namen gemacht hat, zu einem Theaterstück geformt. Herausgekommen ist eine zweistündige Revue von Ideen, Einlassungen und Lebensschilderungen, weniger stringent als assoziativ, dabei immer unterhaltsam und abwechslungsreich, mal getanzt oder mit Gesang.

Am Anfang steht ein Schlagabtausch erster Assoziationen zu Europa, die bereits wie die letzten klingen: vom Erasmus-Programm für den Studentenaustausch innerhalb der EU bis zur Kolonialzeitscham, -schuld und -sühne in Anbetracht der Flüchtlingsboote. Danach steht auf der kleinen Theaterbühne alles zur Debatte, was im großen Europa zur Debatte steht: Nation, Union, Migration, Populismus, Schuldenkrise, Hegemonie Deutschlands und Frankreichs, siebzig Jahre Friedenszeit – fällt da einem noch was ein? Nur zu, eine gute Übung, um sich klarzuwerden, was das bloß ist, dieses Europa. Und wer dabei sofort an die gleichnamige Union denken muss, möge zunächst den Unterschied zwischen der Frage nach deren „Warum“ und ihrem „Wozu“ herausklamüsern, um nicht die Friedensordnung mit einer Glühbirnenverordnung zu vergleichen – was sicher eine lohnende Aufgabe sowohl für die verbeamteten oder gewählten Erschaffer von unionsweiten Mikrovorschriften als auch ihre Erleider wäre.

Allerdings lässt uns die schwungvolle Revue kaum Zeit zu Antworten, denn im Laufe ihrer zwei Stunden gibt sie uns noch andere Denkaufgaben auf: über dem Wert des Geldes an sich, die Folgen der Überfütterung mit Nachrichten aus allen möglichen Netzwerken, die Bedeutung gesellschaftlicher Fortschritte in Form von Minderheitenrechten wie etwa die Schwulenehe, und die alle acht Schauspieler betreffende Frage der Integration: Ist ihre Forderung durch eine nationale Mehrheitsgesellschaft nicht ein Verbrechen? Soll nicht jeder bleiben wie er ist? Darf nicht jeder Europäer nach seiner Facon selig werden können? „Multinational sind die großen Firmen“, referiert einer der Protagonisten, „aber nicht ich, ich bin immer noch zuallererst ich selbst“.

Ausgerechnet an einer Schilderung von Eindrücken aus dem Alltag des weihnachtlichen Straßburg wird die gesellschaftliche Zerrissenheit und der innere Zwiespalt auf den szenischen Punkt gebracht: der Regisseur und Autor aus Norddeutschland legt seiner Schauspielerin aus Südosteuropa einen Text in den Mund über die absurde Kulisse der üppig bis zum Kitsch dekorierten Innenstadt mit noblen Boutiquen, die von Soldaten in voller Kampfmontur abgesichert wird: „Man wandelt darin umher wie in einem Film und weiß nicht, ob dir als Nächstes jemand sagt: ich liebe dich, oder dir eine Kugel in den Kopf jagt“.

Das also ist Europa? Es heißt, die Diskussionen, was er ist, dieser Kontinent, sei auch unter den Schauspielern nicht reibungslos verlaufen. Eine hilfreiche Übung kann es unter Menschen, die sich gegenseitig nerven, sein, ihre Schicksale zu erzählen. Und da sie alle nun einmal Schauspieler sind, tun sie es öffentlich auf der Bühne. Es sind – Künstlermilieu – Geschichten von Emigration und Immigration nach und innerhalb Europas – ein überraschender Religionswechsel vom Islam über den Umweg des Protestantismus zum Katholizismus dabei; und Geschichten von Minderheiten: schwul, weiblich, Migrant – was sich gut mache bei Gebergremien von Kulturfördermitteln; und der Erkenntnis, dass es gerade sogenannte und sich selbst so bezeichnende Minderheiten sind, denen Europa eher ein Schutzraum bietet, als Nationalstaaten – und seien es ihre eigenen, von denen allein bald fünfzehn wegen der unterschiedlichen Herkünfte ihrer Eltern und Großeltern durch die acht Darsteller personifiziert werden.

„I am Europe“, und dabei jeder auf seine Weise – so mag es also sein, das junge Europa. Bleibt nur die Frage: bin ich überhaupt noch Europa? Oder doch schon bald nur Opa? Zeit, dass ich auch meine Herkunft so freimütig, wie die Schauspieler die ihre darbieten, offenbare, um diesem Europa eine weitere, wenn auch zunehmend immer ungewöhnlichere Facette hinzuzufügen: Mein Vater ist geboren, aufgewachsen und hat fast sein ganzes Leben dort verbracht, wo schon seine Eltern geboren, aufgewachsen und gestorben sind. Und deren Eltern, und und und… in der gesamten Familienhistorie findet sich niemand, der weiter entfernt als aus dem Umkreis von zwanzig Kilometern von diesem Ort stammen würde. Deshalb reklamiere ich als deren Abkömmling nun ebenfalls die Zugehörigkeit zu einer Minderheit in Europa: jener der Ortsfesten.

Europa, Kontinent der gefühlten Minderheiten. Es gibt allerdings etwas, was alle diese Minderheiten gemeinsam vor sich haben: die Zukunft Europas. Sie beginnt bereits am Ende des Theaterabends, und zwar so, wie der begonnen hatte, mit einer Assoziationskette: Klimawandel, Flucht, Nationalismus, Kriegsgefahr und keine Hoffnung mehr auf eine Revolution. „Wir wissen nicht, was passieren wird, und auch nicht, wie man sich dazu verhalten soll, und schon gar nicht, wie wir uns schließlich dazu verhalten werden“, sagt zum Abschluss eine Darstellerin und verweist darauf, was Europa vielleicht tatsächlich ist: eine Frage der Haltung.

Von Straßburg aus geht das Stück und seine unbeantworteten Fragen auf Tournee. Ein ganzes Jahr lang, eines, das wohl ein bewegendes für Europa werden wird. Spätestens im Juli, ausgerechnet wieder in Straßburg, wissen wir vielleicht etwas mehr, welche Haltung die Europäer zu ihrem Kontinent einnehmen, wenn dann nämlich das im Mai von ihnen neugewählte Parlament zum ersten Mal zusammentreten wird.

I am Europe
Schauspielrevue von Falk Richter und den Darstellern
Théâtre National de Strasbourg TNS
noch bis 24. Januar täglich um 20.00 Uhr
2 Stunden, 6 – 28 €
Infos und Tickets unter: www.tns.fr

1. bis 3. Februar in Hamburg, Thalia Theater
danach in Bologna, Stockholm, Groningen, Weimar, Paris, Genf, Lüttich, Zagreb und in der Region im Juni 2019 in Saarbrücken und Mai 2020 in Luxemburg.

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