Blick über den Tellerrand: Portugal in der Hölle

Öffentliche Projekte, wie der Bau dieser Brücke, liegen in Portugal aus Eis. Foto: (c) Céu Guarda / CC-BY-SA 4.0

(Von Sarah Adamopoulos / Übersetzung KL) – In Portugal kann sich niemand an eine Zeit in der jüngeren Geschichte erinnern, in denen das Leben so hart war wie heute. Nicht einmal zum Ende der Kolonialzeit 1975, als auf einen Schlag mehr als eine Million portugiesische und afrikanische Flüchtlinge aus den ehemaligen Kolonien in Portugal ankamen, war die Situation vergleichbar mit dem, das die globale Finanzkrise und das Versagen der Euro-Politik im Land anrichten. Der portugiesische Philosoph José Gil ist der Meinung, dass es so eine Situation noch nie gegeben habe: „Menschen werden in Portugal von ihrem eigenen Land vertrieben, das sie paradoxerweise wie Zombies weiterhin besetzen, wodurch sie zu einer Art Spektralwesen werden.“ Kein Wunder, dass diese Menschen, wenn man sie denn fragt, sich nicht als Europäer fühlen.

Die portugiesische Verfassung wird von den Sparmaßnahmen der EU, des IWF und der EZB faktisch außer Kraft gesetzt, wodurch das Land einer mehr als acht Jahrhunderte andauernden Souveranität und die Menschen ihrer Würde beraubt werden: Um zu überleben, wandern viele Portugiesen aus und diejenigen, die bleiben (frühere Mitglieder der Mittelschicht, die inzwischen arm geworden sind), erleben Armut, Arbeitslosigkeit, Hunger. Die Ärmsten überleben nur noch durch wohltätige Organisationen und haben keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung, da sich der Staat schlagartig aus seinen Wohlfahrtsprogrammen verabschieden musste.

Als Portugal Mitglied der EU wurde, war das Land unterentwickelt, was das Ergebnis einer geschlossenen Wirtschaft während einer 48 Jahre andauernden Diktatur war. Also musste Portugal weitaus mehr investieren als andere Länder, vor allem in die Bildung, wobei diese Anstrenungen nicht ausreichten, um die Entwicklungsindikatorn anderer EU-Länder zu erreichen: Zwischen 1993 und 2011 stieg zwar Portugals Kennzahl im Bereich der grundlegenden Bildung (Prozentsatz der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren, die einen mittleren Bildungsabschluss haben) von 20,0 % auf 35,0 %, doch gleichzeitig stieg diese Kennzahl in Spanien von 25,5 % auf 53,8 %, in Griechenland von 39,1 % auf 64,5 %, in Frankreich von 56,0 % auf 71,6 % und in Deutschland von 79,4 % auf 86,3 % (Quelle: PORDATA). Das bedeutet, dass alle jetzt beschnittenen Verfassungsrechte und Mechanismen des sozialen Schutzes dazu beitragen, die Unterentwicklung Portugals aus dem 20. Jahrhundert wieder zu befeuern.

Fast 30 Jahre, nachdem Portugal der EU beigetreten ist und 14 Jahre nach dem Einstieg in die Eurozone, ist Portugal heute weit von den Entwicklungsindikatoren der anderen EU-Staaten entfernt. Gleichzeitig hat das Land einen starken Rückgang der traditionellen Wirtschaftsbereiche zu verzeichnen (die im Tausch gegen schlecht eingesetzte Entiwicklungs-Fonds aufgegeben wurden), und innerhalb von nur zwei Jahren führte die so genannte „Sozialisierung der Staatsschulden“ (die mit der Privatisierung öffentlicher Dienste und großen Steuererhöhungen einher ging) Portugal in eine wirtschaftliche und soziale Verelendung. Die Analyse ist gnadenlos und wird weitgehend nicht wahrgenommen: Die Austerität führt zu einer Verarmung der portugiesischen Bevölkerung, die nicht umkehrbar ist.

Im Vergleich zum BIP gibt der portugiesische Staat mehr für Sozialleistungen für Arbeitslose aus als Länder mit wesentlich höherer Bevölkerung, wie beispielsweise Deutschland (Quelle: OECD Statistiken / Juli 2013), während schlecht bezahlte Arbeitr 55,5 % der gesamten aktiven Bevökerung ausmachen. 41 % der Jugendlichen sind arbeitslos (Quelle Eurostat) und fast 3 Millionen Portugiesen sind entweder in prekären Arbeitsverhältnissen oder arbeitslos, in einem Land, in dem sich die humanitären Auswirkungen der globalen Finanzkrise und des Versagens der EU-Finanzpolitik rasend schnell ausbreiten, wie jüngere Berichte, wie beispielsweise vom Internationalen Roten Kreuz und Halbmond zeigen.

Obwohl die Auswirkungen dieser Fehlentwicklung gut dokumentiert sind (und beispielsweise für Griechenland immer wieder zitiert werden), wird die schnelle soziale Erosion Portugals aufgrund der Austeritätspolitik im Ausland weitgehend nicht wahrgenommen. Im Schatten von Spanien, das selbst unter schwersten wirtschaftlichen und sozialen Problemen leidet, bleibt die Misere Portugals fast unsichtbar, da man lieber auf die „guten Schüler“ der EU-Austerität blickt. Doch die EU-Politik schädigt Menschen, genau in dem Moment, in dem der EU-Haushalt 2014-2020 zu ersten Mal die Ausgaben für die Kohäsion senkt (minus 3,5 % zu der vorigen 7-Jahres-Periode), wodurch die Unterstützung Portugals durch EU-Mittel um 9,7 % sinkt.

Die Europäische Union muss eine ernsthafte Debatte über ihre Zukunft als eine Gemeinschaft von Nationen führen, die sich der Grundrechte-Charta (aus dem Jahr 2000, überarbeitet im Jahr 2010) verpflichtet fühlen. Die EU muss sich auch für eine neue Ausrichtung entscheiden und für gemeinsame Ziele, die nicht länger nur ein gemeinsamer Markt sein können, der Länder behandelt, als seien sie Unternehmen, während gleichzeitig die Ungleichheiten wachsen und damit die Demokratie in Europa gefährden.

Sarah Adamopoulos, in Rotterdam geboren, mit französisch-griechischen Eltern, ist nicht nur eine echte Europäerin, sondern auch eine führende portugiesische Journalistin und Autorin. Sie schreibt unter anderem für die portugisische Online-Zeitung www.aventar.eu.

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