Der Marsch en Marche

Die politische Landschaft Deutschlands bebt. Wird es ein Beben im Wasserglas bleiben, oder steht das bekannte Parteiengefüge nur am Beginn einer weitreichenden tektonischen Verschiebung?

Ist das Licht am Ende des Tunnels oder rasen wir auf die Wand zu? Goto: Till Krech, Beerlin, Germany / Wikimedia Commons / CC-BY 2.0

(Von Michael Magercord) – Aus Bayern ergoss schon öfter ein tiefes Grollen über die Restrepublik. Dieses Mal aber scheint die bajuwarische Urgewalt ein ganzes Beben auslösen zu wollen. An dessen Ende könnte eine völlig neue politische Tektonik stehen. Und zwar eine, die jener in Frankreich sehr ähnlich sein könnte.

Es gehört nicht mehr nur ins Reich der Phantasie sich vorzustellen, dass die CDU und die CSU tatsächlich getrennte Wege gehen werden. Und das nicht nur organisatorisch und zum Teil inhaltlich, sondern vor allem in grundsätzlichen Stil- und Haltungsfragen. Was dabei herauskommen könnte, wäre das vorläufige Ende der Parteien, so wie man sie bisher in Deutschland kennt.

Politische Parteien sind ziemlich starre Konstrukte, die im Laufe ihres Bestehens etliche Strömungen in sich aufgenommen haben. Über politische Differenzen hinweg haben sich darin Kreise von Interessensvertretungen geformt, doch mittlerweile verfransen deren Ränder mehr und mehr, und es bilden sich Schnittmengen oft über die eigentlichen Parteigrenzen hinweg. Wäre nicht so mancher Juso besser bei der Linken aufgehoben? Oder der ein oder andere Agenda-Sozialdemokrat bei der CDU? Können nicht etliche Ökos mehr mit Merkel anfangen, als mit rot-rot-grünen Ambitionen?

Es ist also vielleicht gar nicht ausgeschlossen, dass eine etwaige Aufsplitterung von CSU und CDU eine Bewegung in der bisherigen Geometrie der Kreise und Schnittmengen auslösen könnte, die den gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte Rechnung trägt. Die soziale Differenzierung der beiden letzten Dekaden haben die wahre oder gefühlte gesellschaftliche Stellung – unten, mittig oder oben – vieler Bürger verschoben, aber auch die sich verändernden äußeren Konstellationen stellen die Gesellschaft als Ganzes vor neue Herausforderungen. Entstehen könnte daraus die im bundesdeutschen Parteienspektrum bislang unbekannte Form der „Bewegung“, die es in Frankreich schon eine Weile gibt.

Als politisch grob sortierte Wahlvereine könnten sich darin ganz unterschiedliche Organisationen und Einzelpersonen zu gemeinsamen Listen zusammenfinden. Teile der Partei Die Linke sind ja schon dabei, eine Bewegung aus der Taufe zu heben. Darin sollen sich alle, die sich linker Politik verschrieben haben, auf einer Plattform vereinen, egal ob die zuvor Tiefrot, Rot oder komplementär Grün waren. Am rechten Rand könnte man sich mittlerweile vorstellen, dass die AfD, die CSU, konservative CDUler und auch einige aus der FDP ähnliches zuwege bringen könnten – in Rhetorik und Stil sind sie jedenfalls nicht mehr allzu weit voneinander entfernt. Und in der Mitte sammeln sich die Merkel-CDU, die alte SPD und gute Teile der Grünen.

Es gibt sicher noch andere Optionen, wenn erst einmal alles – Dank der CSU – in Bewegung geraten ist, und wenn sich über die alten Grenzen der Parteien hinweg Menschen zusammen finden, deren Vorstellungen von Stil und Haltung ähnlich sind und sich von einer gemeinsamen Idee vom Menschen- und Gesellschaftsbild leiten lassen. Was ist Gesellschaft? Bloß eine Produktionsgemeinschaft? Bloß ein Volk? Oder ein sozial strukturierter Verbund selbstbestimmter Individuen? Die Antworten darauf mögen die neuen Gemeinsamkeiten schaffen, die sich vielleicht an anderen Maßstäben ausrichten werden als Wachstum und Schuldenstand, aber auch gewohnte Bürgerrechte infrage stellen könnten.

Sicher werden sich dann auch diese „Bewegungen“ schon bald wieder in vielteilige Interessenklüngel auffächern. Zunächst aber scheint da grundsätzlich etwas in Bewegung geraten zu sein in der politischen Landschaft in Deutschland. Und möglicherweise muss man das jüngste politische Chaos als Anzeichen dafür deuten, dass die Meinungs- und Überzeugungskollektive dabei sind, sich an der Trennlinie „Menschenbild“ völlig neu zu sortieren – möge nun die Debatte darüber in ihrer Tragweite erkannt und auf ihr angemessener Weise geführt werden.

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