Wollust der Worte

Eine Geschichte zwischen Sünde und Genuss hat der Straßburger Philosophen-Anthropologe André Rauch geschrieben. Worüber aber? Über die Wollust, die Unzucht, die Unkeuschheit – kurz: «luxure». Sein Sündenpfuhl herrscht auch im Deutschlandfunk.

Ah, die Laster lauern überall auf uns Menschen... Foto: Félicien Rops / PD

(Von Michael Magercord) – Auf Französisch macht man nicht viele Worte, jedenfalls nicht im Wörterbuch. Jedes Wort entspricht zwei deutschen. Das kann zwar manchmal ziemlich unpräzise sein, manches Mal aber gerade besonders erhellend.

«Luxure» ist so ein Wort: Wollust, Unzucht, Unkeuschheit – das volle Programm der sexuellen Zügellosigkeit. Und Luxus und Überfluss steckt da auch noch drin. «Heute hat ‘luxure’ einen schlechten Leumund: Pädophilie, Exhibitionismus, Belästigung, sie gilt als Verbrechen», sagt André Rauch und will in seinem Buch die Luxure, wenn nicht rehabilitieren, so doch eine Geschichte geben – von der Todsünde zur Cybersex – und damit unsere heutige, feministisch geprägte Sicht auf den Eros in ihren historischen Kontext stellen. Das ist ihm zuvor bereits mit einer anderen Ursünde gelungen, der Faulheit.

Nun also die erotische Wollust. Der Heilige Antonius, Don Juan, Casanova, de Sade sind ihre Protagonisten. Männer halt, wobei der erste in der Reihe als Gründungsvater des wollüstigen Dauerkonfliktes zwischen den reinen und dem unreinen Umgang mit dem eigenen Eros gilt. In die Wüste ist der gegangen, um auf der Suche nach Gott allen überflüssigen Reichtümern zu entsagen, wozu auch die Wollust gehört. Und obwohl ihn Hunger und Durst quälen, ist der schlimmste Dämon, der ihn überfällt, die Unkeuschheit und ihre Phantasien – Gott als Lüstlingstester.

Dieses Erlebnis in der Wüstenei stelle nicht nur den Beginn der langen Geschichte einer Skepsis gegenüber der weiblichen Reinheit im Christentum dar, sondern hob auch die Abspaltung der zügellosen Imagination von der züchtigen Wirklichkeit auf. Fortan war schon der unkeusche Gedanke eine Sünde. Das aber hielt die Imagination nicht in Schach. Denn es gab ja noch die Aufklärung, und ausgerechnet die Vernunft ließ diese Zügel etwas schleifen. Es war große Zeit der libertären Lüstlinge, die ihre – im Vergleich zu heute noch ziemlich harmlosen – Vorstellungen auch in der Wirklichkeit nachgingen. Und dank des Gebrauches ihres Verstandes konnten sie sich in ihren lustvollsten Augenblicken nun außerhalb des Sichtfeldes Gottes wähnen.

Diese Zeit sollte nicht allzu lange dauern. Dem Bürgersinn steht es nach Moral, oder was davon übrig war: Zucht und Ordnung. Lange konnte es nicht dauern, dass sich aus der neuerlichen Diskrepanz zwischen Imagination und Wirklichkeit der Berufsstand des Psychologen und Sexualtherapeuten entwickelte. Schließlich folgten die 68er und mit ihnen die feministische Revolution, die sich auch gegen die maskuline Wollust richtete.

Und dann trat das Internet in die Welt, womit die Geschichte in gewisser Weise wieder bei Antonius gelandet ist: in der Wüste der Imaginationen. Wie weit allerdings die digitale Imagination von der Wirklichkeit entfernt ist, kann der Heilige nur erahnen und alle anderen auch. Da lebt nämlich jeder in seiner eigenen. Wirklichkeit wohlgemerkt. Oder besser zwei Wirklichkeiten, der imaginären und realen. Das war ja noch immer so. Doch nun werden im weltweiten Netz nicht nur so manche imaginäre Wirklichkeit bereitwillig kundgetan, plötzlich stehen sie auch noch allen frei zur Verfügung. Wenn da kein Gott nicht mehr hinschaut, muss es der irdische Gesetzgeber tun. Wie viel Wirklichkeit hinter den digitalen Imaginationen noch stecken darf, wird in Gesetzgebungsverfahren ermittelt. «Gesetze regeln heute», sagt André Rauch, «was rein und was unrein ist».

Doch wo verläuft nun die Grenzen zur eigentlichen Wirklichkeit? Eine Umfrage ausgerechnet in einem Fachblatt der Philosophie mag ein wenig Aufschluss geben. Danach erleben 35 Prozent der französischen Landbevölkerung den real durchgeführten Geschlechtsakt als unmittelbarsten Ausdruck ihres Menschseins, aber nur noch 7,5 Prozent der leitenden Angestellten und Beamten. Gleichzeitig erfolgen in der digitalen Wirklichkeit zwischen 25 und 30 Prozent aller Internetzugriffe auf Seiten mit wollüstigen Inhalten. Oversexed und underfucked?

Das soll ruhig jedermanns – und gerne auch jederfraus – Geheimnis bleiben. Soviel Freiheit wenigstens sollten wir uns selbst heutzutage noch zugestehen. Denn das ist ja auch der Zweck der Übung, wenn André Rauch sich in den Sündenpfuhl begibt: die Grenzen unserer Freiheit zu ermitteln. Nichts eignet sich besser, als der Katalog der Ursünden, der sich in fast allen Kulturen so ähnlich wiederfinden lässt, um sich über die Obsessionen seiner Zeit und die gesellschaftlichen Mechanismen zu deren Zügelung klarzuwerden. Und sollte in Zeiten der Zügellosigkeiten im Netz nicht gerade die Freiheit des Schweigens über seine Imaginationen wieder größere Beachtung finden? Trotzdem sei anbetracht der jahreszeitlich anstehenden Festtage doch noch eine letzte, zugegeben höchst indiskrete Frage erlaubt: Wo bleibt bei aller unkeuscher Lust und Cybergeilheit eigentlich die Liebe?

André Rauch im Deutschlandfunk über die Faulheit:
https://www.youtube.com/watch?v=o8W_5mpg82g

Ein weiteres «Straßburger Gespäch» im DLF folgt am zweiten Weihnachtstag:
Der Mensch ist die Frage: Was ist der Mensch? Jean-Luc Nancy am 26.12. um 9.30 Uhr
Infos zu dieser Sendung gibt es HIER.

Das neuste Buch von André Rauch (bisher nur auf Französisch):
Luxure – Une histoire entre péché et jouissance, 256 Seiten, 24.90 €
Beschreibung HIER.

1 Trackbacks & Pingbacks

  1. Wir faulen Sünder – Rheinoper Straßburg gewährt Ablass | Eurojournalist(e)

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste