Pazifist in der 1. Person Singular – Teil 7: Endlich wieder Frieden

Seit Beginn des offenen Angriffskrieges Russlands hadern die Mittelosteuropäer mit dem zögerlichen Westen: Warum springt ihr den Ukrainern nicht ohne Wenn und Aber bei? Mein Freund Igor aus Prag hatte in seinem Blog auf der Website von „Respekt“, dem wichtigsten Nachrichtenmagazin in Tschechien, versucht, es seinen Lesern zu erklären – und ich in wiederum bereits sechs viel zu langen Betrachtungen meinen Lesern und nun in diesem letzten Teil schließlich mir selbst.

Denkmal im Dauerfeuer – Vor dem Museum für den slowakischen Aufstand gegen die deutschen Besatzer am Ende des Zweiten Weltkriegs in Igors Heimatstadt Banska Bystrica erhebt sich ein beeindruckendes Denkmal für die Opfer. Wovon? Der menschlichen Hybris des Krieges. Eine ewige Flamme mahnt uns, dass sie nicht die letzten waren. Foto: © Michael Magercord

(Michael Magercord) – Danke Igor! Dafür, dass Du mich mit Deinen Artikeln überhaupt dazu gebracht hattest, das Verrutschen meiner Wahrnehmung der Welt gleich nach Kriegsbeginn in Worte zu fassen. Ja, da stimmte etwas nicht mehr – und ich gebe zu, da stimmt immer noch nicht viel. Ein wenig hat sich mit dieser Betrachtung auch ein Prozess der Entfremdung vollzogen, der aber trotz der äußeren Verwerfungen nun versöhnlich enden soll. Denn es ist ja sicher heilsam und nützlich, sich seiner Illusionen, durch deren Schleier Menschen notgedrungen ihre Welt beschauen, im Klaren zu sein. Zumal für die Menschen der Moderne, die bei ihrer Weltwahrnehmung auch noch ohne göttlichen Beistand auskommen müssen. So wie ich. Und die anderen, die es sich auf dem Sofa der Illusionen gemütlich gemacht haben, von dem aus wir uns gegenseitig die Welt erklären. Uns bleibt nämlich eine Empfindung, die wir alle teilen, selbst wenn so manche darüber lauthals lieber nicht sprechen möchten, denn in ihr offenbart sich unsere innere Seite. Den selbstgewissen Sofahockern mag diese Seite ihres Innenlebens allerdings verborgen bleiben, weil moderne Menschengemeinschaften mit allen Kräften – und im wörtlichen Sinne – daran „arbeiten“, ihr Vorhandensein zu ignorieren oder ihre Auswirkungen zu betäuben. Im Stillen nämlich eint uns moderne Menschen eine tiefe Trauer – und zwar darüber, dass es überhaupt so gekommen ist, wie es nun gekommen ist und es wohl nun noch kommen wird. Deshalb richte ich ein letztes Wort an jene, die allen Illusionen zum Trotz im Krieg ihren Frieden suchen – und somit an jede und jeden von uns. Also bitte:

Liebe Trauergemeinde! Als Heulsuse, Drückeberger und Zyniker saß ich vielleicht noch ziemlich einsam in der Schmuddelecke des Sofas der Illusionen. Doch nun wird unser Pazifist eine letzte ideelle Figur in uns erwecken, die in jedem von uns steckt. Eines nämlich haben all jene, die auf der Sitzgelegenheit für Balkonbellizisten und Gartenzaunpazifisten ihre entsprechenden Plätze eingenommen haben, gemeinsam: Wir sind allesamt Melancholiker. Ja, ihr habt richtig gelesen, ihr seid – auch ohne erst Zittern und Heulen zu müssen – wehmütige Trauerklöße, allerdings von der modernen Sorte, denen ihre ureigene Melancholie vor ihnen verborgen bleibt. Stattdessen nutzen sogar die Melancholiker, die vor sich selbst anonym bleiben, die Funktionsweise der Melancholie bestens für die Bewahrung ihrer Selbstwahrnehmung als moderne Menschen in unruhigen Zeiten aus.

Illusionslose Illusionen – Worüber sind wir wirklich traurig, wenn wir über den Zustand unserer Welt in Trauer verfallen? Darüber, dass wir allesamt vergessen haben, wie sich ein Leben in Frieden überhaupt gestalten ließe. Die Trauer ergreift uns, weil erst ein Krieg nötig war, um uns begreiflich zu machen, dass Frieden auf Erden niemals erreichter Ausnahmezustand ist. Umso tiefer nagt die Trauer an uns, wenn wir beginnen zu erahnen, dass wir in unseren Produktionsgesellschaften nie wirklich in Frieden leben können, weder mit uns noch mit der Umgebung geschweige denn mit der natürlichen Umwelt. Wenn das kein Grund zur Traurigkeit ist, erst recht, wenn als einzige Aussicht bleibt, es bei dieser Erkenntnis bewenden lassen zu müssen. Doch diese Trauer stößt auf Widerstand! Widerborstig wehren wir uns, auf dass die Trauer nicht übermächtig werde und unsere Wehrhaftigkeit erhalten bleibe. Wehrhaft wogegen? Gegen die erschütternde Erkenntnis, es könne keinen anderen als den Kriegszustand geben, und die Unfähigkeit, sich einen friedlichen Zustand wenigstens noch vorstellen zu können.

Immerhin, wir sind wieder aufgeklärt, und jetzt gilt es, sich zu erinnern, wie es auch anders ginge. Und was sich wiedererwecken lässt, ist nicht verloren, denn das vergessen Geglaubte sitzt noch irgendwo! Heulsusen zittert sich das Vergessene ins Gedächtnis, wenn sie an Waffen denken. Drückeberger verweigern mit seiner Hilfe der Realität die Anerkennung. Zynikern führt es die Feder, wenn sie Parallelen zwischen dem Produzieren und dem Kämpfen ziehen, die sich nun zu kreuzen drohen. Alle drei sorgen auf ihre Weise dazu, uns zumindest einmal kurz erkennen zu lassen, dass es um Krieg und Frieden gar nicht so eindeutig bestellt ist, wie uns die traurige Realität glauben machen kann.

Auch jenen, die nicht zittern und heulen, die Momente zu verschaffen, um die eine unumstößliche Verfestigung der Eindeutigkeit immer wieder herausgezögert wird, dafür muss in der modernen Welt der Eindeutigkeiten die Melancholie sorgen. Melancholiker können gar nicht sagen, ob sie lachen oder weinen, wenn ihnen die Realität nicht mehr in ihrer ganzen Wucht vor Augen tritt und immer noch das Bild einer Gegenwelt zu ihnen durchschimmert: Sind es die Tränen der Trauer oder der Freude, die ihnen den klaren Blick verwässern? Es sind immer beide, denn in der Trauer darüber, dass alles so aussichtslos erscheint, nährt sich die Freude des Melancholikers. Der Melancholiker in uns kann sich getrost auf die Suche nach der friedlichen Gegenwelt machen – und zwar deshalb, weil sie so aussichtslos erschient. Die Melancholie erteilt die Erlaubnis, die Aussichtslosigkeit für einen Moment vergessen zu dürfen. Sie hat eine erlösende Funktion und ihre Botschaft richtet sich an den uns.

Tränensäcke – Also, liebe Trauergemeinde, wir sind traurig, weil es so ist, wie es ist, aber es besteht die Aussicht, diese Trauer in Wehrhaftigkeit zu wandeln. Auf dem Sofa der Illusionen sitzt es sich eigentlich recht gemütlich, in bequemer Sitzhaltung kann man eine unbequeme Realität heraufbeschwören, ohne sich ihr aussetzen müssen. Ungemütlich wird es erst, wenn man zu einem Abgleich zwischen den markigen Worten und der Einsatzbereitschaft an vorderster Front gedrängt wird. Dann regt sich ein störrisches inneres Wesen und erinnert daran, wie feige und selbstbezogen man tatsächlich ist – aber auch, wie zynisch und illusionslos. Wer dann nicht der Melancholie über das Wesen des Menschen verfallen will, hat nur einen Ausweg, nämlich ihre Friedensbotschaft an den richtigen Adressaten zu leiten: Friede meiner selbst!

Da ist er uns nun erschienen, der Pazifist in der 1. Person Singular: Ich bin es, womit ich Frieden zu schließen habe, Pazifist ist, wer Pazifist gegenüber sich selbst ist. Soll ich mich meine Seele wirklich auf Krieg bürsten lassen? Nein, sie bleibt auf eine friedliche Welt programmiert, der Mensch ist ohnedies in seinen Konzepten von der Welt zu Hause, warum nicht in einem friedlichen? Und hatten wir nicht Jahrzehnte lang an einer friedliebenden Idee von der Welt und unserer eigenen Rolle als Friedensstifter gewerkelt, bevor die Zeitenwende wieder zum Krieg rief?

Robben, rettet keine Robben – Sich jetzt schon an der vordersten Front zu wähnen, ist, als robbe man wie in den Kindertagen mit seinem Schießgewehr durch den Vorgarten. Als müsse man sich früh üben für die zukünftigen Kämpfe, für die guten Kriege für gute Ziele, die es nun wieder zu geben scheint. Man hat es wieder leichter in der Welt, wenn man meint, dass Krieg eben manches Mal „zu sein hat“. Und jawohl: so war es doch auch, seit Menschen sich zu Horden zusammengerottet haben, und so ist es erst recht, seit daraus Nationen wurden. Und so wird es sein, wenn es nun die kommenden Herausforderungen zu bestehen gilt: Bei einer Zeitenwende wird es nicht bleiben, eine heroische Haltung auf den Feldern, auf denen mein Mittun zählt, ist jetzt Pflicht! Auch die klimatische Zukunft ist nur zu bewältigen, wenn dafür Schweiß, Blut und echte Tränen der Mühe fließen! Jawoll!

Jawoll? Ach, wäre es bloß so einfach, doch wahrlich, der Pazifist in der 1. Person Singular verhindert die totale Mobilmachung. Denn er lässt mich spüren, dass sich der Kampf gegen mich selbst richten müsste. Wie sollte der Sieg aussehen? Oder gar ein Friede danach? Lohnt es sich, gegen die Auswüchse der Produktionsgesellschaft – egal, ob sie sich in SUVs oder Waffen offenbaren – mit allen Mitteln zu kämpfen? Wäre nicht eine pazifistische Herangehensweise im besten Sinne des Wortes „kontraproduktiv“? Sichere ich wenigstens meinen Frieden, wenn ich nicht umgehend durch die Vorgartenfront robbe?

Autoaggression – Nicht einmal die persönliche Friedensbewahrung ist sicher. Denn das Drückebergern an der Heimatfront schützt weder vorm Zittern noch vorm Heulen. Und der Versuch, den Pazifismus wenigstens gedanklich über die kriegerische Zeit zu retten, mag angesichts der rohen und haltlosen Gewalt zwecklos sein, wenn der Zweck ein sofortiger Friedensschluss sein soll – aber er ist nicht sinnlos. Vor der Trauer, die jeden Menschen überkommt, sobald er über den Menschen nachdenkt, kann sich niemand drücken, egal, ob sie ihn ergreift oder vor ihm verborgen bleibt. Wer dann noch seinen inneren Pazifisten verleugnet, verleugnet sich selbst. Achtung also vor der Verachtung von Heulsusen, Drückebergern und Zynikern! Und wer schließlich auch noch den Melancholiker verachtet, verachtet sich selbst. Und was ist sinnloser als Selbsthass?

Friedlich zu sich zu sein – viel mehr kann ein Pazifist seiner selbst und damit eben doch jede und jeder von uns in kriegerisch gestimmten Zeiten kaum zum Frieden beitragen. Natürlich ist sogar dieser nächstliegende Friedensschluss ein fernes Ziel, doch immerhin ein Ziel, das auf sich zielt und nicht auf andere. Auf dem Weg dahin werden noch viele Niederlagen einzustecken sein, die man aber wenigstens sich selbst zufügt und nicht anderen. Und wenn sich der militärische Spuk wieder in die Kaserne zurückgezogen haben wird und all die anderen Verwerfungen mit Wucht an die Front zurückkommen, ist nicht zuletzt diese Fähigkeit der Friedensapostel in eigener Sache mehr denn je gefragt. Verlernt sie nicht, behütet das zarte Blümchen, lasst es nicht niedertreten, es ist schon klein genug. Kurz, liebe Trauergemeinde: nehmt euch erst, nämlich uns, die Pazifisten in der 1. Person Singular.

Das war der letzte Teil dieser Betrachtung eines Pazifisten in der 1. Person Singular. Es begann mit der Antwort auf den Artikel meines Prager Freundes Igor über sein Verständnis für die anfängliche Zurückhaltung des Westens bei den Waffenlieferungen an die Ukraine im September letzten Jahres. Seither hat sich die Haltung auch der westlichen Politik gegenüber der Ukraine geändert, ohne allerdings die Begrenzung der Unterstützung aufgegeben zu haben. Geduldigen Lesern sei nicht nur gedankt, sondern ebenso um Abbitte ersucht. Denn ich denke, so manchem wird die Schlussfolgerung – gelinde ausgedrückt – weltfremd und gleichsam anmaßend vorkommen. Aber somit entspräche meine mühsam gewonnene Haltung lediglich der Situation, zu der ich mich verhalten muss. Und übrigens: Igor ist – soviel sei jetzt zum Schluss verraten – auch so ein Pazifist in der 1. Person Singular. Er ist der friedliebendste Mensch der Welt, der nicht einmal einen Führerschein hat, dieses Ausweispapier für die Fahrt in das Reich der modernen Scheinfreiheiten – aber das ist schon wieder ein ganz anderes Thema…

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