Der „neue“ Antisemitismus in Frankreich

Nach einem Messerangriff auf einen jüdischen Lehrer in Marseille rät die Jüdische Gemeinde vom Tragen der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung, der Kippa, in der Öffentlichkeit ab.

Angesichts des aufflammenden Antisemitismus in Frankreich rät die Jüdische Gemeinschaft in Marseille "vorerst" vom Tragen der "Kippa" ab. Foto: James MacDonald / Wikimedia Commons / CC-BY 2.0

(KL) – Das geht gar nicht. Nach einer Messerattacke auf einen jüdischen Lehrer in Marseille rät die dortige Jüdische Gemeinde ihren Mitgliedern, vorerst auf das Tragen der „Kippa“, der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung, zu verzichten. Denn Juden, so die Empfehlung, müssten sich momentan ein wenig verstecken – sind wir im Jahr 2016 in Europa schon wieder so weit, dass sich Juden „verstecken“ müssen. Hat ein „neuer Antisemitismus“ Frankreich erfasst?

Neu ist der Antisemitismus in Frankreich und ganz Europa leider nicht. Er flackert nur mehr oder weniger offen auf, je nachdem, was gerade in der Welt geschieht. Man sollte nicht vergessen, dass im Rahmen des Anschlags auf „Charlie Hebdo“ eine blutige Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt in Paris stattfand, dass die Anzahl der religiös motivierten Gewalttaten gegen Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft nie abgenommen hat und dass sich diese Gewalt gegen jüdische Mitbürger wie ein roter Faden durch die ganze europäische Geschichte seit dem frühen Mittelalter zieht. Doch diesen Zyklus von Stigmatisation und Gewalt gilt es zu durchbrechen – es ist schlicht nicht tolerierbar, dass religiöse Gewalt wie im Nahen und Mittleren Osten auch die Städte Europas erschüttert.

Man wolle „bessere Zeiten“ abwarten, erklärte die Jüdische Gemeinde in Marseille und auch, wenn man die berechtigte Angst und Vorsicht versteht, ist dies genau die falsche Maßnahme. Das wäre in etwa so, als würde man den Frauen in Köln raten, bis auf weiteres keine kurzen Röcke und sexy Klamotten mehr zu tragen, um keine Übergriffe zu „provozieren“ – und das ist nicht der richtige Ansatz. Nicht die Opfer von Gewalt müssen sich in Frage stellen, sondern die Täter. Und wenn die Täter nicht durch Einsicht zu einem anderen Verhalten bewegt werden können, dann ist es Aufgabe des Staats und seiner Behörden, mit allem Nachdruck dafür zu sorgen, dass diese Täter verstehen, dass sie sich vollständig außerhalb der zivilisatorischen Grundwerte unserer westlichen Welt bewegen.

Die Empfehlung von Marseille hat allerdings auch in der Jüdischen Gemeinschaft Frankreichs heftige Reaktionen ausgelöst. Haïm Korsia, der Oberrabbiner Frankreichs, ist ganz anderer Ansicht, auch, wenn er versteht, wie es zu dieser Marseiller Empfehlung kommen konnte. Auch andere führende Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in Frankreich wollen dieser Empfehlung keinesfalls folgen, denn ein solcher Verzicht auf das Tragen der Kippa würde so etwas wie „Aufgabe“ vor der Gewalt darstellen.

Doch ist der Umgang mit dem Antisemitismus keine Aufgabe, mit der Frankreich, Deutschland und ganz Europa die jüdische Gemeinschaft alleine lassen dürfen. Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Phänomen, das auch gesellschaftlich bekämpft werden muss. Und hier, auch, wenn es dem einen oder anderen schwer fällt, kommen nicht nur die christlichen Kirchen, sondern vor allem die moslemischen Verbände ins Spiel. Denn bei der Messerattacke von Marseille war der Täter ein 15jähriger, der nach seiner Festnahme von Allah und dem IS schwafelte – die moslemischen Verbände sind nun gefordert, in völlig eindeutiger Art und Weise solche Akte zu verurteilen und gemeinsam mit Vertretern der anderen Religionen zu überlegen, mit welchen Programmen verhindert werden kann, dass sich der Antisemitismus weiter ausbreiten kann. Solche Zwischenfälle im stillen Kämmerlein zu verurteilen, öffentlich aber zu schweigen, das ist eine Haltung, die man angesichts der aktuellen Entwicklungen nicht mehr tolerieren kann. Und das gilt nicht nur für Frankreich, sondern für alle Länder Europas, in denen Rechtsextreme und Volksverhetzer schon wieder nach einem Sündenbock für alle aktuellen Probleme suchen. Das hatten wir vor rund 80 Jahren schon einmal in Europa und diese Geschichte darf sich nie mehr wiederholen. Damit das nicht passiert, sind ausnahmslos alle Kräfte der Gesellschaft gefordert.

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