Die Gruppenfoto-Horror-Picture-Show

Bei den Freiburger Immoralisten wandeln die Figuren in Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ nicht am, sondern im Abgrund.

Blutwurst bleibt Blutwurst, und die Messer sind gewetzt: Antonio Denscheilmann (links) und Jochen Kruß. Foto: Immoralisten

Von Arne Bicker

Die Freiburger Theatergruppe Immoralisten bezeichnet ihre jüngste Inszenierung von Ödön von Horváths Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“ als „eine bitterböse Liebesgeschichte am Vorabend des Dritten Reichs“. Die Premiere am Vorabend des Freitags vergangener Woche lehrte: Das ist eine Untertreibung.

Vor gut zwei Jahren hatten die Immoralisten Horváths „Kasimir und Karoline“ unter freiem Himmel gespielt, an und in einem Mini-Riesenrad. Diesmal belässt die Schauspieltruppe die Darbietung in ihrem kleinen Theatersaal an der Eschholzstraße. Doch wieder rotiert alles, nur diesmal auf einer horizontalen Drehscheibe. Das Riesenrad wurde quasi nur umgelegt, und auch der Reigen an menschlichen Abgründen setzt sich fort, oder, wie es im Stück heißt: „Gottes Mühlen mahlen langsam, aber furchtbar klein.“

Die Rahmenhandlung: Das Wiener Mädel Marianne (Dora Balog) läuft ihrem Verlobten, dem Fleischer Oskar (Jochen Kruß), davon und wirft sich stattdessen dem windigen Pferdezocker Alfred (Markus Schlüter) an den Hals. Der hieraus resultierende Sohnemann Leopold wird zu einer wenig großmütterlichen Großmutter in das niederösterreichische Donautal Wachau verbracht, während Marianne als halbseidene Tänzerin vor die Hunde geht.

Hierum gruppieren sich siebzehn weitere Figuren, und schnell wird klar: Die Welt an der Donau ist schön und blau, nur die Menschen stören das Idyll. Warum? Weil sie es können. Die Schauspielriege der Immoralisten beherrscht durchgehend die Kunst, durch ihre karikierende Überzeichnung im Publikum kurzzeitige Freude zu erzeugen, wo eigentlich gar keine sein dürfte. Der Niedergang des Abendlandes als Amüsement? Alles ist Spiel. Im graffitibesprayten hölzernen Bühnenbild, das an ein übergroßes Wetterhäuschen erinnert, funktioniert auch das.

Doch wie aktuell ist dieses 1931 am Deutschen Theater Berlin unter anderem mit Hans Moser, Peter Lorre und Paul Hörbiger uraufgeführte Stück? Testen wir’s: „Heutzutage kommt ja niemand mehr zu irgendwas vor lauter Krisen und Wirbeln“, heißt es an einer Stelle, und: „Die heutige Zeit ist eine verkehrte Welt, reif für die Sintflut“ an anderer. Na?

Die Immoralisten inszenieren Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald auch in Form gesprochener Regieanweisungen, die der Schauspieler Florian Wetter moralinsauer in die Darbietung hineinmikrofoniert. Immer wieder heißt es „Stille“, und schon frieren die Gesichter der Akteure zu Masken ein, die stets langsam dem Publikum zugewendet werden, damit dieses die mimische Brailleschrift in Ruhe mit seinen Blicken abtasten kann.

Doch auch die weitere Darbietung lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, treiben doch nichts anderes als die Verfehlungen, Verderbtheiten und Anzüglichkeiten der Figuren die Story voran. Auch die Kinder werden in diesem Sinne erzogen, wenn zum Beispiel am zentralen Handlungsort, in der „stillen Straße“ (das Vorbild im echten Leben ist die Lange Gasse im Wiener 8. Bezirk) drei Schachteln Zinnsoldaten geordert werden: „Nur Schwerverwundete“ sollen es sein, „denn der Bubi möchte gern Sanitäter spielen.“

Regieanweisung: „Der Rittmeister kommt von links.“ Ein Widerspruch in sich. Der alternde Soldat doziert: „Nichts ist natürlicher als das monatliche Preisschießen des akademischen Wehrverbandes.“ Und er klagt, ganz in der hüftsteifen Haltung seiner Zinnkameraden: „Wenn der Krieg nur zwei Monate länger gedauert hätte…“ Dann wäre er Major geworden. Doch dazu kam es nicht. Aber die Zuschauer wissen: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Dafür steht schon Jungnazi Erich (Sebastian Ridder) gerade, von dem Alfreds frühere Liebe Valerie (Anna Tomiscek) weiß: „Der Mensch kommandiert sich selbst.“

Zielsicher steuern die Immoralisten ihren Horváth auf eine große Gruppenfoto-Horror-Picture-Show zu. Hier schnüffelt sich Oskar wie ein Glöckner von Notre Dame durchs Bühnenbild, doch das Parfüm der Erkenntnis weht selbstredend woanders. Das Gute blitzt allein hin und wieder in Marianne auf, etwa wenn sie die Frage aller Fragen stellt: „Was ist Liebe?“ Ansonsten bleibt dieses Gute bei Horváth existenzlos im Dunkel, es findet nicht zu sich selbst, wird stets im Aufkeimen zermalmt; die Anhäufung düsterer Seelen und ihrer Beschränktheit lässt nichts anderes zu.

Die Liebe hat bei Horváth keinen faden Beigeschmack, sie ist einer. Oskar ahnt das: „Man ist und bleibt allein.“ Es gibt einfach zu viele Hänsel und Gretel und Wälder und Hexenhäuser in dieser Welt. Marianne seufzt: „Das Schicksal webt Knoten in unser Leben.“ Aber nein, es sind die Menschen, die Knoten in ihr Schicksal weben, indem sie es zum eigenen Nachteil formen. Wo die Naturgesetze ausgehebelt, zerlegt und wieder zusammengesetzt werden, ist ein Frankenstein nicht weit. Und bei wem liegt die Schuld? Auch hier weiß Horváth Rat: „Das Verantwortungsgefühl trägt die Verantwortung.“

Ach so. Marianne ist „fast fasziniert“, und der Johann-Strauß-Walzer „Geschichten aus dem Wienerwald“ bricht mal wieder ab, an seiner Sollbruchstelle, mitten im Takt also, da kann „die Realschülerin im zweiten Stock“ klimpern, bis sie schwarz wird. Bei den Immoralisten ist es Regisseur Manuel Kreitmeier, der neben der Bühne in die Tasten greift, ohne je zum Schluss zu kommen. Denn einen Schluss gibt es in dieser Geschichte nicht, schon gar keinen versöhnlichen. Und ist nicht der Wiener Walzer variabel und voller abrupter Wendungen wie der Herzschlag menschlicher Unvollkommenheit?

Zurück zur Schuldfrage also. Die Figuren sind und bleiben auch hier überfordert: „Es ist eine Frage der Planeten, wie man sich bestrahlt“ – diese unbedarfte Antwort ließe sich getrost aus dem Protokoll streichen. Das Leben ist ein Billardtisch, und die Lage der Kugeln ergibt sich halt, so irgendwie. Unschuldig ist nur der kleine Leopold, und damit ist auch sein Schicksal besiegelt. Horváth ist unerbittlich.

Weitere Aufführungen in der Ferdinand-Weiß-Str. 9-11 am 1., 3., 7., 8. und 10., sowie an neun weiteren Terminen im Mai; dazu zehn Vorstellungen im Juni, jeweils um 20 Uhr. Regie und Bühnenbild: Manuel Kreitmeier. Zeremonienmeister: Florian Wetter. Schauspiel: Dora Balog, Jochen Kruß, Uli Herbertz, Markus Schlüter, Anna Tomicsek, Antonio Denscheilmann, Sebastian Ridder, Daniel Leers, Uwe Gilot, Erika Hotzen. Weitere Infos: www.immoralisten.de

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