Erbgut Europa – oder: die unendliche Geschichte von Manfred und Viktor

Manfred Weber, Spitzenkandidat der EVP für die Europawahl, ist immer nett. Des Herrn Webers Nettsein liegt in seinem Erbgut, wie er schon vor einiger Zeit auf Anfrage von Eurojournalist(e) preisgab, wobei es fast schien, als zeigt er doch ein paar Nerven...

Schöner Rücken kann auch entzücken... Manfred Weber (rechts), Brückenbauer und DNA-Experte... Foto: European People's Party

(Von Michael Magercord) – Kaum jemand ist so nett wie Manfred Weber von der EVP. Der nette Herr Weber bewahrt auch in heikelsten Situationen die Nerven, sogar, wenn er im Anschluss an seine übliche Pressekonferenz als EVP-Fraktionsvorsitzender im Europaparlament Selfies mit Journalisten schießen muss, die ihm sagen, sie würden damit ihre Mütter glücklich machen. Ob er dann denkt: „Was seid ihr bloß für eine alberne Bande“? Zu bemerken wäre das jedenfalls nicht, im Gegenteil, für die Muttis der Journaille setzt er sein besonders nettes Lächeln auf.

Das gehört sich natürlich auch für einen Brückenbauer. Denn genau das will Manfred Weber sein, sollte er zum Kommissionspräsidenten gewählt werden. So hatte er das in seiner Nominierungsrede beim Parteitag im November letzten Jahres in Helsinki gesagt und wiederholt es nun als Spitzenkandidat der EVP für die Europawahl bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie etwa letztes Wochenende auf dem Europatag seiner bayerischen Heimatpartei CSU. Und so ein Spezialist für Überbrückungen muss sich natürlich mit noch viel größeren Nervensägen herumplagen, als mit Journalisten.

Obwohl Journalisten auch schon nervige Fragen stellen können, vor allem, wenn sie sich dabei besonders schlau vorkommen. Zum Beispiel diese sogenannte „Frage“ eines Ach-so-Schlaumeiers aus dem besagten November bei seiner ersten Straßburger Pressekonferenz als Kandidat für den EU-Kommissionsvorsitz: „Würden Sie Ihren Umgang mit der ungarischen Fidesz-Partei in der eigenen EVP-Fraktion nicht als ein Beispiel für ein Scheitern der Kunst des Brückenbauens sehen? Und wenn, würden Sie daraus als EU-Präsident die Lehre ziehen, dass man Brücken auch mal rechtzeitig abbrechen müsste?“

Ganz schön hinterhältig, und dieser Fragesteller bildet sich immer noch ein, der Politiker Manfred Weber hätte mit den Zähnen geknirscht, bevor er geantwortet hatte. Doch dann brachte er nicht weniger zum Ausdruck als das, was Europa im Innersten zusammenhält, aber eben auch trennt: „Mir hat bisher niemand beschreiben können, wie Europa funktionieren könnte, wenn wir Brücken abbauen“, sagte der EVP-Fraktionschef, und der nette Herr Weber fügte im selben Atemzug hinzu: „Ich will den Kompromiss, das ist tief verankert in meiner DNA“. Brückenbauen als Frage des Erbguts, oder wenn man die Politikerprosa mal in Normalsprache überträgt: Reden, egal mit wem man da am Tisch sitzt, und selbst mit den größten Nervensägen ausloten, was man mit denen noch gemeinsam haben könnte.

Dass ein gewisser Herr Orbán, der so gar nicht nett ist, richtig nervt, dass durften wir in Straßburg schon letzten September erfahren, als der hier war und uns darüber aufklärte, was alles schiefläuft im Westen des Kontinents: Überall lauern verkappte Kommunisten, naive Linke, böse Mächte von gestern und heute, die das christliche Abendland von Innen durch kulturelle Preisgabe und Zuwanderung schwächen, sodass es der islamischen Gefahr schutzlos ausliefert ist. Viktor Orbán ist Ministerpräsident von Ungarn, des Landes also, das über drei Jahrhunderte an der direkten Grenzlinie zum Osmanischen Reich stand, Budapest gehörte gar einhundertfünfzig Jahre dazu. Man könnte darauf verweisen, das Ungarn dieser Zeit seine großartige Bäderkultur verdankt, die nun viele Touristen ausgerechnet aus dem Abendland an die Rába, Tisza und Donau zieht, und quasi schon magyarisches Erbgut ist. Aber es würde nichts daran ändern: Der Mann aus Transdanubien meint seine Mission zur Rettung des christlichen Abendlandes scheinbar wirklich ernst, wenn man so will, liegt sie ihm im Blut, oder – wie man heute sagt – in seinen Genen – und eben vielleicht auch in denen etlicher seiner Landsleute, sonst könnte er mit ihnen nicht so erfolgreich politisch spielen.

Leicht macht es dieser Herr Orbán niemandem, weder Freund noch Feind, ganz abgesehen von Brückenbauern. Und wie unklar ist die Frontlinien in diesem Ringen zwischen den unterschiedlichen Genpools verlaufen, zeigt ein Rückblick in die jüngere und jüngste Geschichte: Helmut Kohl hatte Orbán einst in die sogenannte „Parteienfamilie“ der sogenannten christlichen Demokraten eingeladen: politisch mittig also. Und so sieht er sich auch noch heute: nicht extrem, sondern als der letzte, der noch wirklich in der Mitte steht. Nicht wie die Merkel, diese Totengräberin des Abendlandes. Die deutsche Bundeskanzlerin ließ das im November im Europa Parlament nicht auf sich sitzen: Ausgerechnet aus Ungarn und Österreich dafür beschimpft zu werden, dass sie im Augst 2015 die Grenzen für Flüchtlinge nicht geschlossen habe: Viktor Orbán höchstselbst hatte seinerzeit den österreichischen Bundeskanzler Faymann angerufen und gebeten, die Grenzen offenzuhalten, und der habe sie, Angela Merkel und Vorsitzende der CDU gebeten, dies dann ebenfalls zu tun.

Und hieß damals der zuständige österreichische Außenminister nicht Kurz, der heute aus dem Wiener Kanzleramt seiner deutschen Amtsschwester gerne den damaligen Bruch des Dublin-Vertrages über die Erstaufnahme von Flüchtlingen unter die Nase hält? Angela Merkel verfügt ja scheinbar über ein Gelassenheitsgen, aber in diesem Punkt versteht sie keinen Spaß, nicht einmal mit den Spaßvögeln aus Österreich und Ungarn, deren Parteien zu allem Überfluss noch derselben europäischen Familie angehören wie die CDU: Habe sie sich etwa, so die Kanzlerin, auch nur ein einziges Mal darüber beschwert, das Ungarn entgegen der damals gültigen Dublin-Vereinbarung nicht in der Lage war, seine EU-Außengrenze zu schützen? Sich ihr deshalb aus der österreich-ungarischen Ecke vorzuwerfen zu lassen, mit der Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn diese Vereinbarung gebrochen zu haben – niemals! Wer aber lud danach nun gerade diese beiden Motzbrocken immer wieder gerne ein, um gemeinsam mit ihnen genau das zu tun, nämlich Merkel zu beschimpfen? Die CSU, die so manches Mal doch ziemlich garstige Partei des doch so netten Herrn Weber.

Was sagt uns diese bisherige Aufreihung von EVP-Kalamitäten? Dass alles ganz schön vertrackt ist. Zumal für Brückenbauer. Denn nun könnte man natürlich sagen: schmeißt die Vertreter der Partei von diesem Kerl, also den aus Ungarn, doch einfach raus aus der EVP-Fraktion, zumal dort der Rechtsstaat unterminiert wird, die Schließung der Soros-Universität weiterhin droht und sie sich der Aufnahme von Quotenflüchtlingen verweigern. Und tatsächlich sind die meisten anderen Parteien in der Fraktion für den Rausschmiss. Aber, sagt Fraktionschef Weber, die Mitglieder der Fidesz-Partei haben im Europäischen Parlament in allen wichtigen Fragen immer in großer Einigkeit mit der EVP-Gruppe gestimmt. Es gab kaum Differenzen, jedenfalls nicht mehr, als unter den anderen auch. Und in Ungarn habe man immerhin reagiert auf Berichte aus Brüssel und einige umstrittene innenpolitische Gesetze zurückgenommen. Allerdings nicht alle, weshalb der Streit weiter schwelt, denn auch die EU hat eine DNA, die sich bei einem Brückenbauer so liest: „Es gibt keinen Rabatt für Grundrechte, aber wir müssen reden. Denn das Grundprinzip dieses Kontinents ist es, Plattformen des Redens zu finden“.

So setzte sich Manfred Weber vor gut zwei Wochen einmal mehr mit dem Eiferer aus Budapest an einen Tisch. Es war ein großer Familienrat, denn dabei waren die Vertreter aller konservativen Partien der EVP. Und schon fast folgerichtig fand sich ein Kompromiss, und zwar einer, wie ihn sich nur Menschen ausdenken können, die zur normalen DNA noch ein spezielles Politiker-Gen haben: Suspendierung nennt sich das, sie geht einher mit dem Entzug des Stimmrechts und einer scharfen Beobachtung, ob der Übeltäter nun vom bösen Tun ablässt, bedeutet aber dessen Verbleib im gemeinsamen Verbund. Alle haben zugestimmt, selbst der Österreicher Kurz und Orbán selbst – Politiker Kurz wohl auch deshalb, um sich selbst und seine arg rechtslastige Koalition mit der FPÖ aus der Schusslinie zu halten; und Orbán wohl, weil er weiß, dass er sich zumindest noch bei den Wahlen zum EU-Parlament vor seinem Volk als Mitglied der Mitte präsentieren kann. Also eine typisch politische Lösung, allen ist irgendwie recht getan, wofür Spitzenkandidat Weber natürlich sogleich eine passende Spruchweisheit aus seiner Brückenbaufibel gefunden hat: „Es gibt keine direkten Wege zum Erfolg, zumal, wenn der Erfolg Europa heißen soll.“

Und doch gibt es Menschen, wie Guy Verhofstadt, die darin den moralischen Bankrott der EVP erkennen. Während der letzten Sitzungswoche des Parlamentes in Straßburg sprach der immer etwas garstige ALDE-Fraktionschef den konservativen Kollegen die Legitimität zur Führung für die kommende Legislatur ab. Hat er vergessen, dass in seiner ach so liberalen Fraktion etwa die Vertreter der tschechischen Regierungspartei ANO sitzen? Deren Chef hat nicht nur ein EU-Verfahren wegen Subventionsbetrugs am Hals, sondern wettert ganz offen gegen genau die Flüchtlingsquotenpolitik, deren Befolgung der Herr Verhofstadt unter ziemlichem Gepolter stetig von allen Staaten einfordert. Und in den Reihen der S&D-Fraktion sitzen nicht nur die rumänischen Sozialdemokraten, die die bereits designierte rumänische EU-Staatsanwältin aus Angst vor Korruptionsprozesses nicht nach Luxemburg ausreisen lassen wollen, sondern auch noch die SMER aus der Slowakei, für die der Mord an dem Journalisten Kuciak zumindest einige Fragen aufwirft.

Was ist die Moral dieser vertrackten Geschichte? Vielleicht die: In diesem Europa kommt man mit moralisierendem Getöse auch nicht viel weiter, jedenfalls nicht weiter, als mit Brückenbauen – zumal selbst der dazu genetisch bestimmte Baumeister sich unter vier Augen durchaus nachdenklich zeigt: „Was sollen wir denn tun?“, fragt Manfred Weber den neunmalklugen Journalisten schließlich, „Die EU wieder verkleinern? Dann hätte das Projekt seinen Sinn verloren.“ Und seine DNA, möchte dieser Schreiberling hinzufügen, denn in kleinerer Form wäre diese Union etwas anderes als heute. Zurückgeführt auf jene Kernstaaten, die zumindest von sich meinen, sie hätten fast das gleiche Gen-Set, ließe sich der schöne Diskurs als gesamtkontinentales Friedensprojekt nicht mehr aufrechterhalten.

In Europa ist alles eine Frage des Erbguts. Man könnte jetzt mit Metaphern geradezu um sich werfen: Die EU und sein Parlament, das Genlabor; Politiker, die Geningenieure, von denen sich nicht wenige in Genmanipulation üben; usw… Vielleicht aber genügte es ja anzuerkennen, dass das Genpool in Europa nun einmal ziemlich breit gefächert ist, und darin dann einen Reichtum zu erkennen. Und wenn wir die DNAs endlich mal sequenzieren, mögen wir Erstaunliches aneinander entdecken: Sitzt das Widerstandsgen im Osten Europas nicht sogar tiefer als im Westen? Es braucht nur etwas länger, um aktiviert zu werden, aber dann… Könnte man wiederum dort, wenn man nur einmal den Versuch unternimmt, der Keimbahn des Westens zu folgen, endlich erkennen, dass die Begriffe „Solidarität“ und „sozial“ nicht gleichbedeutend sind mit „Sowjetunion“ und „Staatssicherheit“? Im Westen wieder könnte man vom praktischen Ost-Gen profitieren, nämlich schnell Gemeinsamkeiten ausmachen und in Projekte wandeln, anstatt immer gleich komplexe, alle und alles einende Supra-Strukturen schaffen zu wollen.

Kurz: Es ist an der Zeit, endlich das zu tun, was man die ersten fünfzehn Jahre nach dem Ende der Teilung des Kontinents nicht tun wollte, und die letzten fünfzehn Jahre meinte, gar nicht mehr nötig zu haben: nämlich unser europäisches Erbgut in seiner ganzen Vielfalt zu entschlüsseln – und die Nord-Süd-DNA-Verschiebungen habe ich noch nicht einmal erwähnt. Der Gen-Abgleich könnte jedenfalls ein Gewinn für alle sein, und sogar so manches, was wir über uns selbst noch nicht wussten, zutage fördern, sogar vielleicht die Erkenntnis, wie ähnlich wir uns nämlich letztlich eben doch sind.

Ja, das war nun die Geschichte vom Erbgut, der Moral und der europäischen Realität. Sie könnte natürlich jetzt mit dieser schönen Brückenbauerprosa enden. Doch da fehlte etwas, denn eigentlich geht sie nun erst richtig los: Wo nämlich ist diese „Plattform des Redens“ über unsere Genvielfalt? Und weil Journalisten ja ähnlich wie Politiker ein ganz eigensinniges Gen mitbekommen haben, nämlich neben jenem für Neunmalklugheit auch eines an neugieriger Selbstüberschätzung, stellt der Schreiber dieser Zeilen zum Abschluss die Frage: Wie wäre es mit dieser Plattform? Ja hier, im Internet, bei uns?

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