Hört, hört: keine Altersdiskriminierung, bitte!

Ein älterer Herr bewarb sich um einen Job in Straßburg und tatsächlich wurde ihm eine Festanstellung angeboten. Was heute fast undenkbar ist, war 1769 noch möglich. Und wir können nun wieder genießen, was der alte Mann auf seinem letzten Posten schuf.

FX Richter, Vorbild für alle Arbeitssuchenden 50+ und Kapellmeister im Strassburger Münster von 1769 bis 1789! Foto: PD

(Von Michael Magercord) – Es klingt wie ein Märchen aus der Arbeitswelt: Herr Franz Xaver Richter war schon sechzig Jahre alt, als er seine Festanstellung in Straßburg antrat. Mann und 60 – „schwer vermittelbar“ nennt man diese lebenden Fossile im Jargon von Jobcentern und Arbeitsämtern. Bewerbungen an Personalabteilungen von Unternehmen und Behörden zu schreiben, bleibt für sie reine Beschäftigungstherapie ohne praktische Folgen. Dem unfreiwilligen Vorruhestand ist nicht zu entgehen, der ohne regelmäßige Einkünfte allerdings so gar nicht lustig ist.

Genau dieses Schicksal schwebte jenem Herrn Richter drohend als Zukunft vor, als er mutig in Paris an einem „Concours“ teilnahm. Der Eignungswettbewerb war mit der Bewerbung um eine leitende Position im Kulturbereich verbunden. Gesucht wurde nämlich die beste Komposition für spirituelle Konzertmusik, die aus zwei Teilen zu bestehen hatte: einer kurzen Instrumentalsymphonie in Sonatenform und einer Chormotette von höchsten dreißig Minuten Länge. Die Einreichungen wurden anonymisiert, somit konnte also niemand wissen, wer dahinter stand, wie alt oder jung, wie männlich, weiblich oder divers der Kandidat war.

FX Richter hatte zwar mit seiner Musik über den Psalm 136 „Super flumina babylonis“ diesen Wettbewerb nicht gewonnen. Aber seine Komposition erregte große Beachtung, sodass sich die Fähigkeiten des Komponisten bis nach Straßburg herumsprachen. Dort, im Elsass, war gerade die Stelle des Kapellmeisters des hiesigen Münsters vakant geworden, und schon bald darauf trat der Sechzigjährige den begehrten und wichtigen Posten in der Notre-Dame de Strasbourg an.

Zu schön um wahr zu sein? Nun ja, man muss der schönen Geschichte über die altersdiskriminierungsfreie Anstellungspraxis eines öffentlich-rechtlichen Arbeitgebers wohl doch ein kleines Detail hinzufügen: Sie vollzog sich nämlich 1769, zu Zeiten also, als Erfahrungsschatz noch was galt und seinem Träger nutze – und als es noch unvorstellbar war, dass die Begriffskaskade „alter weißer Mann“ einmal zu einem Schimpfwort wird, das besonders zartbesaitete Exemplare dieser Gattung gar als dreifach diskriminierende Beleidigung auffassen könnten.

František Xaver Richter, der aus Mähren stammte, unter dem Namen Franz Xaver an der berühmten Mannheimer Schule unterrichtet hatte und nun als François Xavier in Straßburg wirkte, behielt den Posten bis zu seinem Tod 1789 inne und beglückte seinen Arbeitgeber noch als Achtzigjähriger jede Woche mit einer neuen Motette für die sonntägliche Messe. Heute erkennt man in diesen Werken die wichtige Position des Komponisten als Wegbereiter des Übergangs vom Barock zur Klassik ins Bewusstsein zu rufen – eine Position, die übrigens zu seinen Lebzeiten durchaus anerkannt wurde, was nicht zuletzt der Besuch seines jungen Bewunderers Wolfgang Amadeus Mozart in Straßburg zeigte.

Gut 230 Jahre später hat sich das tschechische Barock Ensemble aus dem Heimatland des Komponisten der ehrenvollen Aufgabe gewidmet, den Werken des wohl bedeutendsten Komponisten, der je im Elsass gewirkt hat, wieder ihren gebührenden Platz in der Musikgeschichte zuzuweisen. Drei CDs mit dem Te Deum, Karfreitagsoratorium und Requiem sind die Frucht dieser Bemühung. Chefdirigent Roman Válek durchforstet die Archive nach verschollenen Partituren, für die nun jüngste Einspielung ist er in der Straßburger Musikbibliothek Union Sainte Cécile fündig geworden.

Dort befand sich auch eines der ersten Werke Richters, das er als Kapellmeister des Münsters komponiert hatte. Das Chorwerk „Miserere für zehn Stimmen in f-moll“ aus dem Jahr 1770 gilt schon jetzt kurz nach seiner Wiederentdeckung als Paradebeispiel für seine Könnerschaft der Setzung von Chor und Solostimmen. Zusammen mit der Bewerbungskomposition sind beide als Weltersteinspielungen heute wieder zu genießen und tragen dazu bei, Richters Werk immer weiter zu verbreiten.

Leider gibt es einen Ort, wo man sich dessen Bedeutung immer noch nicht bewusst ist: im Elsass. Denn ausgerechnet im Münster zu Straßburg, wo Richters Messen und Motetten doch eigentlich ihren natürlichsten Platz haben sollten, sind sie immer noch nicht zu hören gewesen. Das wird aber langsam Zeit, denn jünger werden wir nun mal alle nicht mehr…

Franz Xaver Richter
Super Flumina Babylonis
Miserere Mei Deus

Tschechische Barockensemble unter der Leitung von Roman Válek

CD-Spieldauer 67:56
Supraphon SU 4274-2

Informationen gibt es HIER.
Hörbeispiel – HIER KLICKEN

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