Zukunft ist kein Zeichenbrett

...zumal das Zeichenbrett mittlerweile ein digitales Entwurfsprogramm ist. Doch wer speist die Programme mit seinen Ideen? Ein Superhirn aus der Hexenküche der Algorithmen? Das sicher nicht, da waren immer noch Menschen am Werk. Doch was hat es zu bedeuten, wenn sie ihre Projekte in algorithmischer Perfektion zur Schau stellen? Eine übermütige Bildinterpretation.

Schöne neue Welt? Aldous Huxley 2019? Foto: Michael Magercord / CC-BY-SA 4.0

(Von Michael Magercord) – Das Titelbild der neusten Ausgabe der Straßburger Stadtpostille „Strasbourg Magazine“, die in einer Auflage von 163.000 Exemplaren an alle Haushalte verteilt wird, ziert eine digitale Zeichnung mit einem Blick auf ein Wohnungsbauprojekt an einem Kanalufer mit junger Frau und Kind im Vordergrund.

Im Innenteil des Hefts, das die Stadtverwaltung herausgibt, finden sich weitere gut fünfundzwanzig dreidimensionale Aufrissabbildungen mit durchgehend kastenförmigen Gebäuden. Im Umraum der gezeichneten Bauten gibt es dann Variationen: mal sind es ebene Rasenflächen mit Betonstufentreppen in cooler Sitzhöhe, die sich zwischen Gebäuden und einem Kanalufer befinden, mal sind es quirlige Einkaufs- und Restaurantsträßchen, die durch kantige Häuserschluchten führen.

Auf insgesamt vier Doppelseiten werden damit die richtungsweisenden Bauvorhaben von Straßburg präsentiert, die wir uns nun genauer betrachten wollen – und zwar nur die Bilder an sich, die wir hier lediglich als Abbilder von imaginären Objekten verstehen. Es geht dabei also nicht um die Frage, ob es sich um Bilder handelt, die eine strahlende Zukunft oder eher eine zutiefst deprimierende Horrorvision darstellen. Nein, das wird jeder Betrachter für sich beantworten müssen. Auch die folgende Problematik bleibt außen vor: Ob nämlich die Bauvorhaben, die da schon einmal vorab in eine lebendige Szene gesetzt werden, notwendige Projekte sind, die die Eurometropole Straßburg endlich zu einer echten europäischen Metropole machen? Oder ob sie eher megalomane Ausgeburten enthobener Lokalpolitiker sind, denen die gefühlte Bedeutung ihres Örtchens zu sehr zu Kopf gestiegen ist?

Für das Letztere spräche sicher einiges, zumal der Unmut in der Stadt vor allem über die vielen überambitionierten Bauprojekte spürbar wächst. Braucht es wirklich einen dusteren Theaterbau für fast 30 Millionen Euro, wenn der Betreiber mit seiner alten Spielstätte zufrieden war? Und wie ernüchternd muss es sein, dass das von der Stadt gehypte „éco-quartier Danube“, welches im Abendschatten einer finsteren Neubaugruppe mit dem poetischen Namen „Black Swans“ entlang der meistbefahrenen und schadstoffbelasteten Straße der Stadt entsteht, nun wegen seiner hohen Verdichtung, der Altlasten der halbindustriellen Vornutzung des Bodens und fehlender Grünflächen bereits von Studentengruppen und Kommunalpolitikern aus anderen Orten als Anschauungsobjekt genutzt wird, an dem man lernen kann, wie man es besser nicht machen sollte?

All das ist nicht der Punkt unserer Betrachtungen über diese Bildserie, zumal diese Zusammenhänge auf den digitalen Aufrisszeichnungen nicht zu sehen sind. Deshalb soll es nun auch gar nicht um die abgebildeten Projekte im Einzelnen gehen, sondern um die Bildnisse an sich: Wie stellen sie ihre Objekte dar? Was wird durch sie letztlich abseits des tatsächlich Abgebildeten an ideellen Werten vermittelt? Natürlich spannen sich noch viele weitere Fragen um eine profunde Bildinterpretation, doch um es kurzzumachen: Die genaue Betrachtung der Projektionen von zukünftigen Projekten lässt uns schon vorab erkennen, dass die zukünftige Absicht, die mit ihrer Errichtung verfolgt wurde, sich in der schließlich verwirklichten Gegenwart ins Gegenteil verkehren kann.

Was also ist auf diesen Bildern abgebildet? Eigentlich nicht viel: es sind szenische Darstellungen von Neubauten und ihren unmittelbaren Umräumen, worin menschliche Figuren auftreten, von denen die meisten darin scheinbar ihre Freizeit verbringen. Das allein birgt noch keine Erkenntnis. Aber jede bildliche Umsetzung einer imaginären Zukunft, egal wie belanglos ihre Darstellung auch sein mag, zeigt nicht nur Kommendes, sondern löst beim Betrachter in erster Linie Erinnerungen an bereits Gesehenes aus. In diesem Falle an Zweierlei: Einmal erinnert diese Vorschau auf eine heile Welt an die Bilder aus einer anderen Umsonst-Zeitschrift in hoher Auflage: Im „Wachturm“ der Zeugen Jehovas muten so die Darstellungen des angenommenen Zustandes des himmlischen Paradieses an. Zum Zweiten bieten sich erstaunliche Parallelen zu den Darstellungen aus der Endphase des realexistierenden Sozialismus. Denn zeigte die offizielle sozialistische Propaganda zu Beginn noch hart arbeitende Menschen und ihre Mühen um den Aufbau ihrer neuen Welt, so konzentrierten sich in der Untergangs- und Auflösungsphase der sozialistischen Staaten die Darstellungen auf den Konsum der vermeintlichen Früchte dieser Mühen: Zu sehen war ein fröhlicher Industrialismus, der eine unbeschwerte Zukunft verspricht.

Wir wissen ja alle, wie diese Vision in der Realität geendet hatte. Und sie löste sich auch deshalb in Wohlgefallen auf, weil sie auf widersprüchlichen Ansprüchen aufgebaut war: garantierte Konsumsteigerung bei garantiertem Erwerbseinkommen, was schließlich zu einem rücksichtslosem und vor allem völlig ineffizienten Ressourcenverbrauch führte. Und wenn nun die Darstellungen aus jener Zeit sich trotz der Unterschiede im politischen, sozialen und wirtschaftlichen System denen aus der unsrigen so sehr gleichen, ähneln sie sich dann nicht in der Haltlosigkeit der ihr zugrunde liegenden Visionen?

Dabei sei jetzt gar nicht auf die irrige – marktwirtschaftliche – Annahme verwiesen, man müsse nur fleißig Wohnungen bauen und schon würden sie für alle Menschen wieder erschwinglich werden. Wer das immer noch glaubt – und das tun viele –, hat nicht verstanden, wie der Immobilienkapitalismus funktioniert: Nicht das Angebot bestimmt den Preis, sondern das im Umlauf befindliche Geld. Davon gibt es in der derzeitigen Niedrigzinsphase mehr als genug, nur leider befindet es sich in sehr wenigen Händen. Dieser Umstand treibt zwar Großinvestitionen an, aber nicht, um ein Angebot zu schaffen, sondern um das überreichliche Geld aus Angst vor dessen Wertfall als Immobilie abzusichern. Die unmittelbare Einnahme steht bei diesen Investitionen nicht im Vordergrund, also besteht für die Investoren keine Notwendigkeit zu einer eventuell unrentablen Vermietung. Als sichtbares Zeichen für diese Zusammenhänge möge die erstaunliche Tatsache dienen, dass die heutigen Nobelneubauviertel fast genauso angelegt sind, wie einstmals die Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus und der französischen HLM: kantige Klötze auf engstem Raum, nur eben alles in chic. In Straßburg wird am Rande des HLM-Viertel Rotterdam sogar ein einstiger Sozialwohnungsriegel ohne eine geringste Änderung an seiner baulichen Dimension in einen hochpreisigen Apartmentblock umgestaltet.

Aber wie gesagt, die Kalamitäten des Immobilien- und Wohnungsmarktes und die daraus resultierenden Fehleinschätzungen der urbanen Politik sollen hier nicht das Thema sein, sondern die Abbildungen der Visionen der Straßburger Planer und Lokalpolitiker und ihre unterschwelligen Botschaften. Legt man nämlich nun ihre Gleichartigkeit zu den Darstellungen der spätsozialistischen Visionen zugrunde, ließen sich diese digitalen Aufrisszeichnungen von einer durchgestylten Neubauwelt auch als der vorweggenommene Abgesang auf den Großbaufetischismus eines in seine letzten Jahre gekommenen Spätkapitalismus lesen.

Hier soll nun nicht nur auf seine widersprüchlichen Ansprüche verwiesen werden, die immer offensichtlicher zutage treten und sich auf die Begriffe Ökonomie und Ökologie zuspitzen lassen. Es geht ebenso um das Unbehagen, dass diese Bilder hervorrufen können und jenem ähnelt, welches sich bei den Darstellungen aus der Endphase des Sozialismus einstellte: Ist die Errichtung der darauf dargestellten Welt ihre Mühe, die darauf explizit nicht mehr gezeigt wird, noch wert? Soll man den Dreck, Staub und Lärm, die zur Verwirklichung dieser Visionen erzeugt werden, klaglos ertragen? Und will man nachher in einem solchen Möchte-Gern-Metropolen-Paradies wirklich leben? Genügt den meisten Menschen eine urban gewachsene Mittelgroßstadt vielleicht doch und damit ihre simple Gegenwart? Bedarf es überhaupt einer Vision des fernen Jenseits, das in der Moderne „Zukunft“ heißt?

Und somit sind wir schließlich wieder beim „Wachturm“ der Zeugen Jehovas angelangt. Denn wenn sich diese und ähnliche Fragen bei der Betrachtung der idyllischen und reinen Bilderwelten einstellen, ist der erste Schritt zur Profanisierung und Säkularisierung eines bisher für sakrosankt gehaltenes Wertesystems vollzogen. Zum Wesen eines religionhaften Wertekanons gehört, dass er sich nicht rechtfertigen muss, alle unter ihm lebenden Menschen hingegen sich gegenüber seinen moralischen Anforderungen unentwegt rechtfertigen müssen. Doch plötzlich stehen Wachstum und damit der vom Spätkapitalismus geformte Fortschrittsbegriff unter jenem Rechtfertigungsdruck, den der zuvor auf den Betrachter ausgeübt hatte.

Die Betrachtung dieser Bilder hätte dann für die innere Umkehr der Rechtfertigungsverhältnisse gesorgt – und zwar ganz entgegen ihrer eigentlichen Absicht. Somit würde diese Serie von diesen doch eigentlich positiv gestimmten Bildern unfreiwillig zwei Dinge aufgezeigt haben: Einmal würden sie uns erklären, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass dieser spätkapitalistische Großprojektionswahn derart um sich greifen konnte, und zweitens aufzeigen, dass sich nun ein bedeutsamer Umbruch für seine gesellschaftliche Akzeptanz anbahnt.

Es ist ausgerechnet ihre unumstößliche Wuchtigkeit, mit der diese digital perfektionierten Darstellungen vor den Betrachter treten, die uns beides offenbaren: Denn einerseits zeigt sich darin der fast schon naive Glaube an die Schaffung eines besseres Jenseits mithilfe von Großbauprojekten, wobei sich hinter der aalglatten Fassade ihrer Präsentation bereits die kleine Portion Zynismus verbergen mag, ohne die die Investoren und politischen Genehmigungsinstanzen sicher nicht so agieren würden, wie sie es heute noch tun. Und andererseits wirkt gerade die fast schon verzweifelt idyllische Darstellung ihrer Projekte wie ein letztes ikonoklastisches Aufbäumen gegen die aufkommende allgemeine Glaubenskrise in diese zunehmend als antiquiert wahrgenommenen Visionen der Planer und Lokalpolitiker. Das wirft natürlich weitere, tiefgehende Fragen auf: In welcher Geschwindigkeit wird sich dieser Glaubensverlust vollziehen? Wird er das Denk- und Wertesystem und in der Folge auch das gesellschaftliche und wirtschaftliche System ändern? Und wird sich diese Änderung noch im gewohnten Wechselspiel einer gefestigten Demokratie abspielen?

Die Antworten darauf geben diese Bilder nicht mehr. Sie lassen uns nur erkennen, dass ein grundlegender Wandel bevorsteht, nicht aber in welche Richtung er gehen wird. Doch genau darin liegt nun der Handlungsspielraum der urbanen Gesellschaften: Es ist nicht zu spät, die Umwälzungsprozesse zu gestalten. Hier seien nur zwei grobe Stichworte genannt: behutsame Stadtplanung und partizipative Demokratie. Je eher wir nun reagieren, desto glimpflicher können wir uns von den Verheerungen der überkommenen Visionen erholen.

So sei hier abschließend noch ein Dank ausgesprochen: Dass uns nämlich diese gestalterisch eigentlich belanglose Bildserie aus einem Entwurfsprogramm für architektonische Aufrisszeichnungen die Dringlichkeit der anstehenden ökologischen, demokratischen und letztlich auch ästhetischen Herausforderungen noch einmal besonders plastisch vor Augen geführt haben, für diesen Mut – besser: Übermut – sollte man der Straßburger Stadtverwaltung und den Herausgebern ihrer Stadtpostille letztlich Anerkennung zollen.

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