(1) „Hast du Sklaven gehalten?“ – ein Reisebericht aus Gorée

Wie weit wirkt Geschichte ins Heute hinein? Welche Konsequenzen muss man jetzt noch aus ihr ziehen? Aus aktuellem Anlass ein Bericht von einer Reise zu einem Ort der Erinnerung an den Sklavenhandel, der in seinem versöhnlichen Grundton auch schon fast wieder Historie ist: Impressionen und Gespräche aus dem eigentlich gar nicht so fernen Jahr 2010.

Die Fähre legt an - Gorée im Blick einer Schulklasse, die das „Maison des Esclaves“ besichtigen wird. Foto: (c) Michael Magercord

(Michael Magercord) – Die Insel Gorée liegt vor der Küste Dakars, der Hauptstadt des Senegals. Sie markiert den westlichsten Punkt des afrikanischen Kontinents. Zwei Museen machen das nicht einmal einen Quadratkilometer große Inselchen zu einem historischen Ort: das Museum für Ur- und Frühgeschichte des Senegals und das sogenannte Sklavenhaus, die UNESCO-Welterbestätte zur Erinnerung an den Sklavenhandel. In diesem ersten Teil des Berichts von der zehn Jahre zurückliegenden Reise nach Gorée kommt Édouard Colli zu Wort, der Direktor des „Maison des Esclaves“.

Die Überfahrt von Dakar nach Gorée dauert kaum eine halbe Stunde. An diesem Morgen war die Fähre gut gefüllt: Touristen mit ihren Reiseleitern, Schülergruppen auf Klassenausflug mit ihren Lehrern und Restaurantangestellte, Hotelpersonal – und in der Sitzreihe vor mir zwei Souvenirhändler. Einer fragt: „Zum ersten Mal auf Gorée?“, und prophezeit: „Du wirst sehen, dort gibt es viel Historie dort“ – und richtig: der Geschichte kann man auf der kleinen Insel kaum entkommen.

Es ist nur ein kurzer Fußweg vom Anleger zu dem einstigen Handelshaus, das heute als Museum dient. Und es ist der Direktor, der die Besucher persönlich willkommen heißt: Von hier aus wurden Schwarzafrikaner nach Amerika verschifft, angekettet zu Hunderten in einem Boot, aussortiert nach Leistungskraft, nur die Kräftigsten kamen an Bord, trotzdem hatten kaum Zweidrittel die Überfahrt überlebt, erklärt Édouard Colli einer Reisegruppe aus Frankreich.

Heute gehen wir in das Sklavenhaus auf der Suche nach unseren Wurzeln. Jeder senegalesische Schüler muss mindestens fünfmal das Sklavenhaus besucht haben. Diese Geschichte muss den jungen Menschen ins Gedächtnis eingebrannt werden, um ihre Wiederholung zu verhindern und eine bessere Welt aufzubauen. Es ist wie beim Autofahren: Wer sicher vorankommen will, muss immer auch in den Rückspiegel schauen.

Die Touristen schauen sich um in dem Bau mit dem schönen Treppenaufgang, der als Sammellager für den Abtransport der Sklaven nach Amerika genutzt wurde. Im oberen Stockwerk befanden sich die Schreibstuben der Buchhalter, darunter in dunklen Gewölben, die Kasematten und Verliese, sogar die schweren Ketten sind noch zu sehen. „Das ist Geschichte, wir müssen die Erinnerung daran bewahren, aber es ist vorbei und ich hoffe, die Afrikaner sehen das auch so“, sagt einer der französischen Besucher, „doch ich fürchte, dass sie es nicht so sehen.“

Eine junge dunkelhäutige Frau schaut skeptisch: „Ich komme aus Jamaika, wir sind gewesen, die verschleppt worden sind, wir, nicht die Afrikaner“. Die Besucherin aus der Karibik ringt mit der Fassung: „Für uns ist sehr hart, hier zu sein“, und sie fragt sich, wie die Afrikaner heute darauf reagieren? „Heute“, sagt der Édouard Colli am Ende seines Vortrages zu der französischen Besuchergruppe, „ist das Sklavenhaus eine Stätte der Mahnung an die Menschenrechte und ein Ort der Versöhnung“.

Ich bin gegen Reparationen. Man sollte das Leben eines Individuums nicht erneut mit einem Preis belegen. Die einzige Form der Entschädigung, die ich akzeptiere, ist die Erinnerung. Der Sklavenhandel muss als integraler Bestandteil der Weltgeschichte angesehen werden. Wir fordern keine Reparationen, aber zweifellos spüren wir immer noch die Folgen des Sklavenhandels. Die jungen, arbeitsfähigen Männer und Frauen mussten alle das Land verlassen, das hat uns sehr zurückgeworfen. Dafür sind die Nutznießer dieses Handels immer noch verantwortlich.

Die ersten Europäer, die Gorée als idealen Handelsstützpunkt nutzten, waren Holländer, ihnen folgten Portugiesen. Das Handelshaus, das nun Museum ist, hatten Ende des 18. Jahrhunderts französische Kaufleute errichtet, Sklaven haben zunächst Briten und dann Franzosen vom Senegal aus verschifft. Ob sie ihren letzten Weg auf afrikanischen Boden nun tatsächlich durch das große Tor dieses Hauses zum Schiffsanleger beschritten haben, wird von Historikern zunehmend bezweifelt. Das weiß auch der Direktor, doch mindert das nicht die Bedeutung des Sklavenhauses als Ort, wo sich die Erinnerung an den Handel mit Schwarzafrikanern, wie Édouard Colli es ausdrückt, „symbolisch kristallisiert“ – und zwar der Atlantikhandel der Europäer ebenso wie der Sklavenhandel der Araber.

Die heutige Verantwortung liegt nun darin: Die Welt ist ein planetarisches Dorf geworden. Europa kann sich nicht ständig nach seinen Vorstellungen weiterentwickeln und Afrika einfach beiseiteschieben und vergessen. Der Konflikt geht weiter, aber er ist nun zu einer kulturellen Auseinandersetzung geworden: Denn erst, wenn jedes Volk in die Globalisierung einbringen kann, was ihm wichtig ist, kann in der Welt die Bestialität überwunden werden.

Vor dem Sklavenhaus wartet an diesem Morgen eine Schulklasse, fünfzig Jungen und Mädchen im Alter von vielleicht 14 oder 15 Jahren. „Im Museum für Ur- und Frühgeschichte haben wir schon viel gelernt“, erklärt einer der Acht-Klässler, „wir haben den Schmuck gesehen, den die Höhlenmenschen in der Steinzeit hergestellt haben. Die Kolonisation war nur ein kleines Detail im Vergleich zur unglaublichen Geschichte, die sich davor auf Gorée abgespielt hatte“. Und nun geht es noch ins Sklavenhaus: „Der Besuch wird ein weiteres Plus für unser Fortschreiten sein“, sagt der Schüler und seine Mitschüler nicken zustimmend.

Doch dann drängt sich ein zweiter Schüler aus dem Pulk hervor. „Es ist einfach super hier“, sagt er zu mit, dem Touristen aus Europa, „vor allem das Haus des Sklavenhandels, der uns Schwarze so sehr gezeichnet hat“. Ja, Afrika habe viel gelitten, sagt er, und es ist ein wenig traurig, dass wir hier nach Gorée kommen, um zu sehen, wo sie unsere Urgroßeltern einpfercht hatten, und wo uns die Weißen so übel misshandelt haben. „Aber für Touristen wie dich ist das doch toll, könnt euch amüsieren, wo wir gequält worden sind“, ruft er noch, bevor er wieder in der Gruppe verschwindet – und seine Mitschüler johlen: „Bravo!“ Eine Mitschülerin hat dann doch etwas Mitleid mit dem bedröppelten Touristen: Der erste von den beiden, die zu mir gesprochen hatten, der sei, erklärt sie, ihr Klassenbester, der zweite aber, dieser vorwitzige Kerl, der ist der Klassenkasper.

(Die Folgen 2 und 3 dieses Berichts lesen Sie in den nächsten Tagen hier!)

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