Frankreichs Sozialrevolte wirft grundlegende Fragen auf

Auch heute wird wieder in Frankreich gegen die geplante Rentenreform und die Regierung demonstriert – und dazu gibt es nun eine grundlegende gesellschaftliche Debatte.

Da haben die Demonstranten Recht - Geld ist da. Es befindet sich nur in den falschen Taschen... Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY 2.0

(KL) – Frankreich ist das Land, das Europa und der Welt einst die „Erleuchtung“ gebracht hat. Während der Französischen Revolution wurde ein politisches System ausgehebelt, ideologisch unterstützt von den großen französischen Philosophen, die den Unterbau für diese Veränderungen lieferten. Ähnlich könnte es auch 2023 sein, denn der Protest der Franzosen gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre bedeutet nicht etwa, dass die Franzosen fauler sind als die Menschen in anderen Ländern, die wesentlich später in den Genuss ihrer Rente kommen. Denn die Frage, die von den Franzosen gestellt wird, lautet „Leben wir um zu arbeiten oder arbeiten wir um zu leben“. Und diese Frage lohnt es, diskutiert zu werden.

In der Diskussion um die geplante und von den Franzosen fast einhellig abgelehnte Rentenreform rückt eine grundsätzliche Frage immer mehr in den Mittelpunkt – nämlich diejenige nach Sinn und Zweck der Gesellschaft, nach Sinn und Zweck der Arbeit und, weiter gefasst, sogar nach dem Sinn des Lebens. Und plötzlich mischen sich andere Fragen in diese Debatte, zum Beispiel diejenige nach der Verteilung des Reichtums.

Seit dreieinhalb Jahren befindet sich die Welt im Ausnahmezustand, leiden die Menschen unter enormen Einschränkungen und die nun immer weiter galoppierende Inflation drückt sich für viele sozial schwächere Menschen dadurch aus, dass der Speisezettel zum Ende des Monats immer knapper ausfällt. Doch gleichzeitig stopfen sich die Reichen während dieser multiplen Krisen weiter munter die Taschen voll – alleine im Jahr 2022 schütteten die großen, börsennotierten Unternehmen mehr als 1,5 Billionen Euro (!) an ihre Aktionäre aus – und Frankreichs Regierung, in der sich mehrheitlich Millionäre tummeln, ignoriert weiter tapfer die Leiden des eigenen Volks.

Doch es reicht nicht, mit dem ständigen Hinweis darauf, dass es anderswo noch übler zugeht, einen Sozialabbau zu betreiben, der die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft ins Abseits stellt. Doch die Menschen sind weitaus weniger blöde, als Regierungen das im Allgemeinen denken. Sie sehen, dass man Milliarden für die Pharmaindustrie aus dem Ärmel schüttelt, sie sehen, dass man Milliarden für den Ukraine-Krieg aus dem Ärmel schüttelt, sie sehen, dass man weiterhin alles tut, um superreiche Aktionäre noch reicher zu machen und dass nichts am Prunk und den Repräsentationskosten derjenigen einspart wird, die uns gerade an die Wand fahren. Dass die Gewerkschaften, übrigens nicht nur in Frankreich, nun ihr Stück vom Kuchen einfordern, das ist völlig normal.

Doch die grundlegende Frage nach dem Sinn der Arbeit und des Lebens wird immer öfter bei den Demonstrationen gestellt, bei denen beispielsweise am letzten Dienstag 3,5 Millionen Menschen auf die Straße gingen. Sind wir nur dazu da, so lange zu arbeiten, bis wir uns im Vorzimmer des Krematoriums befinden? Oder ist das Alter der dritte Lebensabschnitt, in dem die Menschen ein Anrecht auf ein erfülltes, materiell abgesichertes Leben haben, nachdem sie ohnehin bereits den größten Teil ihres Lebens mit Arbeit verbracht haben? Sollte der Mensch mehr sein als eine Arbeitseinheit, die im Alter eben auf den Müll geworfen wird, dann ist die Diskussion um das Renteneintrittsalter mehr als legitim.

Der Wild-West-Kapitalismus, der die westliche Welt seit dem II. Weltkrieg fest im Griff hat, kümmert sich nur wenig um die Menschen, die seinen Reichtum produzieren. Arbeiter sind austauschbar, und wer aufgrund seines Alters nicht mehr in der Lage ist, genug Reichtum für die Aktionäre zu erwirtschaften, der landet auf der Müllhalde des Lebens, wo er möglichst kurz Kosten verursachen sollte, bevor er erschöpft stirbt. Dass es nun in Frankreich Millionen Menschen gibt, die gegen dieses Konzept aufbegehren, ist positiv zu bewerten und sollte eine entsprechende Debatte auch jenseits der französischen Grenzen auslösen.

Fände eine Umverteilung der erwirtschafteten Reichtümer statt, müsste niemand über die Anhebung des Renteneintrittsalters diskutieren. Würde ein Großteil der Gewinne der großen Unternehmen in die Sozialsysteme umgeleitet, würden die Staaten in die Menschen, und weniger in die hoch korrupten „Märkte“ und die Industrie für Mordgeräte investieren, wären Arbeitnehmer systematisch am Erfolg ihrer Unternehmen beteiligt, dann gäbe es die Zusammenbrüche der Sozialsysteme nicht.

So bleibt die grundlegende Frage: Haben die Menschen ein Anrecht auf einen glücklichen und sicheren Lebensabend? Diejenigen, die auf diese Frage mit „Ja!“ antworten, befinden sich in Frankreich momentan und für eine ganze Weile auf der Straße. Auch heute wieder. Und wer das Gefühl hat, die Streikenden und Demonstrierenden würden „das Land als Geisel nehmen“, der sollte sich daran erinnern, dass man solchen „Geiselnahmen“ die schrittweise Absenkung der Wochenarbeitszeit von 48 auf 35 Stunden verdankt, den bezahlten Urlaub und viele andere soziale Fortschritte, die niemand freiwillig konzidiert hat. Bevor man also in Schnappatmung verfällt, weil demonstriert und gestreikt wird, sollte man sich eben dieser Frage stellen: Haben die Menschen ein Anrecht auf einen glücklichen und sicheren Lebensabend?

1 Kommentar zu Frankreichs Sozialrevolte wirft grundlegende Fragen auf

  1. Ihr Artikel ist ohne Zweifel recht sympathisch, aber, Entschuldigung wenn ich das so schreibe, doch realitätsfern. Vor einigen Tagen hatten Sie, zurecht wie ich meine, den desolaten Zustand der europäischen Armeen beklagt. Nur wenn man dagegen was tun will braucht man eben Geld, das für andere Zwecke fehlen wird. Die Zeiten haben sich geändert. Frommes Wunschdenken und emotionsgeladene Artikel sorgen für Gesprächsstoff am Stammtisch einer gemütlichen Winstub, bringen aber ansonsten wenig. Leider..,

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