Konkrete Utopie 15/16 – Teil 2: Philharmonie Straßburg

Die Utopie der Bühnenkünste wird konkret, wenn sich auch nur ein Zuschauer eine Karte für eine Vorstellung gekauft hat, sagt der Regisseur und Utopist Olivier Py. Welche Utopien und konkrete Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung bieten sich in dieser Saison in Oper, Konzertsaal und Theater in Straßburg?

Musik, ein Ausdruck gemeinsamer Werte und geteilter Emotionen - was dann doch konkreter ist als eine Utopie... Foto: Eurojournalist(e)

(Von Michael Magercord) – Musik ist eine Zeitkunst, sagen schlaue Musikologen. Diese Kunst der Zeitgestaltung sei formlos und bilderlos, und sie vermittele Inhalte, die sprachlich nicht ausfüllbar sind – wenn das nicht nach Utopie klingt?

„Utopos“ ist griechisch und bezeichnet einen Ort, den es im Hier und Jetzt nicht geben kann. Aber was, wenn es jenen Ort gibt, wo die Utopie konkret wird? Dann kann das nur ein Tempel sein, und wenn dieser einzig dazu da ist, der Zeitkunst der Musik zu frönen, ist er ein Konzertsaal. In Straßburg befindet sich der größte derartige Saal im Palais de la Musique et des Congrès (PMC). Der hat allerdings kaum etwas von einem echten Musentempel, es ist eher ein Ort, worin die Utopie einer ortlosen Moderne konkret geworden ist. Der Salle Érasme ist nämlich so groß, dass er selbst dann nicht gefüllt wirkt, wenn er es ist – was er dann auch meist ist, wenn die Straßburger Philharmonie darin ihre Abonnentenkonzerte gibt. Und was dann geschieht, wenn wir uns schließlich darin zu einem Konzert zusammen gefunden haben, hat der Chefdirigent und künstlerische Leiter Marko Letonja so formuliert: „Unsere Teilnahme am Kulturleben ist ein Mittel zur Bestärkung der gemeinsamen Werte und Emotionen, die uns verbinden“.

Die Konkretisierung dieser schönen Utopie begann in dieser Saison bereits am Donnerstag, den 15. Oktober mit Werken von Weber, Berlioz und Mousorgski, und die Programmgestaltung des ersten Konzertes weist den Weg in die gesamte Saison: Man weiß eben, was man an den guten Alten hat, und so geht es diese Woche mit Schumanns Klavierkonzert und Mahlers „Titan“ weiter. „Monumente“ wird dieses Konzert überschrieben, und tatsächlich, viele der bekannten Denkmäler der bildlosen Zeitkunst werden über diese gesamte Saison erklingen, von B wie Beethoven bis W wie Carl Maria von Weber. Eine interessante Verbindung von Emotionen verspricht der 20. November, wenn die russische und die angelsächsische Seele, Schostkowitsch und Elgar, „ungestüme Momente“ – so das Konzertmotto – in dem gewaltigen Saal entfachen sollen.

Über die erprobten Werte bekannter Werke hinaus bemüht sich die Straßburger Philharmonie, die Schaffung von Utopien am Laufen zu halten und lädt in jeder Saison einen zeitgenössischen Komponisten ein, der uns in die Moderne versetzt. In dieser Saison ist der Amerikaner John Corigliano der „composer in residence“. Dessen Konzert „Rote Geige“ wird zusammen mit der Planeten-Suite von Gustav Holst am 3. und 4. März 2016 gespielt. Einen Monat später gibt es einen weiteren Ausflug ins Unbekannte, wenn der chinesische Sheng-Spieler Wu Wei mit seinem traditionellen, etwas quäkig klingenden Blasinstrument ein Stück des finnischen Komponisten Jukka Tiensuu intoniert.

Natürlich wird die Philharmonie die üblichen Jahresereignisse musikalisch begleiten, so wird es in der Weihnachtshauptstadt auch zu Weihnachten etwas geben, was dem fröhlich-feierlichen Anlass entspricht, wie ebenso zum Jahresende ein schwungvolles Silvester- und Neujahrskonzert; und schließlich, einen Winter, Frühling und viele Konzerte später, das beliebte Abschlusskonzert am Rheinufer. Dieses letzte aller Zeitkunstwerke ist übrigens kostenlos, ansonsten aber fordert die philharmonische Utopie ihren Preis. Der ist zwar nicht gleich völlig utopisch, aber doch ziemlich hoch. Kann man in der Rheinoper etwa auch ohne Anspruch auf einen Nachlass schon für 12 Euro dabei sein, ist das bei den Straßburger Philharmonikern erst mit einem Obolus von 31 Euro möglich.

Etwas günstiger ist die kammermusikalische Reihe der Philharmonie, die sich darüber hinaus durch eine etwas gewagtere Programmgestaltung auszeichnet. Und wer es noch gewagter haben will und es wagt zu gewinnen oder zu verlieren, ohne aber überhaupt etwas dafür zu bezahlen, der sollte sich mal das Programm der Musikhochschule von Straßburg anschauen. Die Studenten erproben sich dort auf der Bühne, und man weiß zuvor nie, was hinten raus kommt. Doch egal ob es schon gut war oder noch etwas Übung gebraucht hätte, immer schwingt die Utopie einer kommenden Zeit mit, wenn junge Musiker, Komponisten und Dirigenten sich an alten und neuen Werken erproben. Zudem bietet das Konservatorium Workshops an: Man kann sich ins Komponieren einführen lassen oder seine Kenntnisse über das Instrumentenspiel vertiefen. Gitarrenspieler sollten sich zum Beispiel den 9. und 10. Dezember 2015 vormerken, wenn Pablo Ganzález Jazey zeigt, wie man in Argentinien die Saiten greift. Gasthörer sind immer willkommen.

Und nicht zu vergessen: die vielen Kirchen der Stadt, wo eigene Chöre singen oder hochmotivierte Amateure und junge Studenten ihre ersten Konzerterfahrungen sammeln, wie etwa in den protestantischen Gemeinden St. Thomas oder St. Pierre le Jeune, oder bei den Dominikaner-Mönchen an der Rue de l’Université. Der edle Spendermut bestimmt hier den Preis. Und die schließlich gibt es auch einige rührige Initiativen, die über den Rhein hinweg im Elsass und in Baden Konzerte organisieren, wie die Singakademie Ortenau – der musikalischen Utopie sind nun einmal keine Grenzen gesetzt.

www.philharmonique.strasbourg.eu
www.conservatoire.strasbourg.eu
www.singakademie-ortenau.de

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