O tempora… Fortschritt oder Kulturausverkauf?

Der Grundschulverband will die Schreibschrift abschaffen. Ist das die Kapitulation vor dem Smartphone? Sollen Kinder nur noch das lernen, was sie auf Bildschirmen vorfinden?

Ist es für Kinder wirklich so schlimm, eine Schreibschrift zu lernen? Foto: Thirunavukkarasye Raveendran / Wiki Commons

(Pierre Max) – Die Diskussion wird noch eine Weile hohe Wellen schlagen. Soll tatsächlich die schöne, geschwungene Schreibschrift abgeschafft und von einer kalten, Arial-gleichen Druckschrift ersetzt werden? Was der Grundschulverband in Deutschland fordert und was die Schweiz gerade ebenfalls einführen will, soll eine Erleichterung für Schüler sein. Als ob die heutigen Generationen zu doof wären, eine schöne Handschrift zu lernen.

Ist es wirklich ein kultureller Fortschritt, wenn man Liebesbriefe nicht mehr in seiner schönsten Handschrift verfasst und seine ganze Emotion hinein legt, sondern die Geschichte mit einem leicht erlernten „LOVE U :-)“ per SMS abfeiert? Langsam wird es seltsam. Wissen und Verständnis wird durch Information und das Beherrschen von Suchmaschinen ersetzt, Kultur muss ihren Platz der Funktionalität und dem Bologna-Ranking überlassen und das wird als Fortschritt verkauft.

Der Mensch sollte aber mehr als die Summe seiner Funktionalitäten sein. Der schriftliche Ausdruck machte einst den Unterschied zwischen Mensch und Tier aus, angefangen mit ersten graphischen Gehversuchen des Cro-Magnon-Menschen in den Höhlen Südfrankreichs über Symbolschriften und Runen hin zur neuzeitlichen Schrift.

Die Schrift war die Möglichkeit, Zivilisation für die Nachwelt zu konservieren. Schrift war die Möglichkeit, über die Zeit hinweg zu kommunizieren, Wissen und Erkenntnisse einzufangen und zu teilen und schöne Künste wie Poesie oder Literatur zu entwickeln.

Was wären die großartig illustrierten, kunstvoll gesetzten und mit edlen Steinen verzierten Werke des frühen Mittelalters? Mönche konnten damals Tage mit dem Malen eines einzigen bunt verzierten Buchstaben verbringen – das ist Kultur und Liebe zu Schrift und Sprache. Wären diese Werke in liebloser Druckschrift hingerotzt wirklich größere Kulturgüter? Wohl kaum.

In einer Zeit, in der selbst Bibliotheken in ihrer Existenz gefährdet sind, da mittlerweile private Anbieter eBooks zum Ausleihen anbieten, bequem per Download von zuhause aus, sollte man doch überlegen, ob nicht das eine oder andere Kulturgut doch geschützt werden sollte. Bevor wir ganz verlernen zu schreiben – denn der erste große und globale Stromausfall würde die Menschheit auf den Wissensstand von 3400 v. Chr. zurückwerfen.

Fortschritt ist nicht, wenn man alles macht, was machbar ist, sondern wenn man die Dinge verändert, die für eine positive Entwicklung des Menschen verbesserungswürdig sind. Das Abschaffen des Kulturguts Schreibschrift gehört sicher nicht dazu.

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