Scheitert die EU an ihren eigenen Regeln?

Gesundheit ist Sache der Mitgliedsstaaten. Deswegen gibt es keine europäische Covid-Strategie und jedes Land strickt weiter an eigenen Lösungsansätzen, die alle nicht funktionieren.

Ähnlich gut lesbar wie dieser Schilderwald ist momentan die europäische Coronapolitik. Foto: Zv0486~commonswiki / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – „Leider, leider fällt die Gesundheit in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten“, heißt es achselzuckend in Brüssel. In der Tat. Das ist sehr schade. Denn dadurch, dass man Regelwerke, die zu Zeiten aufgestellt wurden, in denen niemand ahnen konnte, dass eines Tages die Welt unter einer solchen Pandemie leiden würde, als Hinderungsgrund dafür nimmt, nun diese Pandemie nicht wirksam zu bekämpfen, sondern durch ungeschickte, sich teilweise widersprechende Maßnahmen national einzudämmen, sorgen die europäischen Länder dafür, dass uns dieses Virus noch lange, lange Zeit auf Trab halten wird.

Gestern öffnete Italien beispielsweise wieder Restaurants und auch öffentliche Sehenswürdigkeiten. Zwar gilt weiterhin eine nächtliche Ausgangssperre zwischen 22 Uhr und 5 Uhr morgens, doch steht diese Entscheidung in krassem Gegensatz zu den Maßnahmen in anderen Ländern. In Frankreich werden die Bürgersteige inzwischen um 18 Uhr hochgeklappt. Bedeutet das, dass das Virus in Frankreich 4 Stunden länger am Tag aktiv ist? Natürlich nicht. Man könnte fast das Gefühl bekommen, als würden diese Maßnahmen in den jeweiligen Ministerrunden ausgewürfelt… Natürlich ist es verständlich, dass kein Land seine Volkswirtschaft an die Wand fahren möchte, doch entwickeln sich die nationalen Maßnahmen zu einer Art Jojo – man lockert im Alleingang, sieht, dass die Zahlen wieder steigen und zieht dann die Schrauben wieder an. Doch diese Strategie ist der sicherste Garant dafür, dass das Virus weiter bei uns bleibt.

Die Europäische Union zählt zu den großen Verlierern dieser Pandemie. Nicht einmal der Ankauf der Impfdosen verläuft reibungslos, weil man in den Brüsseler Machtzentralen so lange diskutiert hatte, bis nicht-europäische Länder fast die ganze Produktion der europäischen Hersteller aufgekauft hatten. Ebenfalls versäumt wurde die Einrichtung eines europäischen Systems zum Management freier Intensiv-Kapazitäten in den Krankenhäusern und nach wie vor gibt es keine europäische Strategie. Für nichts.

Die europäische Spitzenpolitik führt sich gerade selbst an der Nase herum. – Dass man nach einem Jahr immer noch nicht begriffen hat, dass eine Pandemie keine nationale Angelegenheit ist, stimmt nachdenklich. Was nützt es, wenn heute aus Deutschland eher ermutigende Zahlen gemeldet werden? Durch die Mobilität des 21. Jahrhunderts ist klar, dass dies nicht mehr als eine Momentaufnahme ist. Speziell die neuen Virus-Mutationen (die auch ständig weiter mutieren) sorgen dafür, dass dort, wo heute niedrige Zahlen gemeldet werden, die Situation morgen schon wieder umkippen kann.

Immer noch brüsten sich nationale Politiker mit der sinnlosen Aussage, „man würde die Krise besser managen als andere Länder“ – nur kann das gar nicht stimmen, denn es ist schlicht nicht möglich, dass EIN Land die Situation in den Griff bekommt, während das Virus in den Nachbarländern weiter grassiert.

Aber – „Gesundheit ist Sache der Mitgliedsstaaten“. – Na prima. Dann gibt es ja wenigstens eine Entschuldigung für dieses völlige Versagen in der wohl größten Krise, die Europa und die Welt seit dem II. Weltkrieg erleben. Und das scheint momentan in der Politik die größte Sorge zu sein – das eigene Versagen zu kaschieren und so zu tun, als habe man die Situation im Griff.

Die richtige Einstellung wäre es zu sagen „Gesundheit ist Sache der Mitgliedsstaaten. Doch wir haben verstanden, dass kein Mitgliedsstaat diese Pandemie alleine bekämpfen kann und deswegen ändern wir, zumindest für die Dauer dieser Pandemie, eben diesen Grundsatz und machen die Bekämpfung der Pandemie zur europäischen Chefsache.“ Stattdessen verstecken sich kleinkarierte Beamte hinter völlig unpassenden Regelwerken. Dem Virus ist das egal. Solange die Menschen bestehende Regelwerke für wichtiger erachten als die gemeinsame Bekämpfung einer weltweiten Bedrohung für Gesundheit, Wirtschaft und das ohnehin schon schlecht funktionierende soziale Gefüge, so lange kann das Virus mutieren und sich überall dort ausbreiten, wo man eine effiziente Bekämpfung mit dem Hinweis darauf unterlässt, dass dies nicht den Regelwerken entspricht.

Viel Zeit bleibt der EU nicht mehr, endlich etwas mehr zu tun, als sich lediglich um den Profit einer Handvoll Vakzin-Hersteller zu sorgen. Aber offenbar hat man in Brüssel noch nicht verstanden, dass das institutionelle Europa in dieser Pandemie auch seine eigene Zukunft verspielen könnte. Denn sobald diese Pandemie irgendwann überwunden sein wird, müssen wir die Sinnfrage Europas stellen. Was nützt ein Staatenbund, der dann versagt, wenn er gebraucht wird?

Am Ende wird die Coronakrise dann vielleicht doch etwas Gutes haben – sie zwingt uns, alles auf den Prüfstand zu stellen – unsere Wirtschafts-, Gesellschafts- und Politiksysteme. Denn noch nie zuvor hat man derart deutlich vorgeführt bekommen, wie anachronistisch diese Systeme heute organisiert sind. Eine lebensbedrohliche Pandemie deswegen nicht wirkungsvoll zu bekämpfen, „weil das Regelwerk dies nicht vorsieht“, das ist so etwas wie ein politisch-intellektueller Offenbarungseid. Wenn ein Regelwerk nicht den anvisierten Zweck erfüllt, dann ändert man es eben, statt deswegen Menschenleben nicht zu retten, weil das Regelwerk dies nicht vorsieht. Europa wird sich vollständig neu erfinden müssen, um eines Tages seine 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger wieder zu erreichen. In dieser schlimmen Krise ist die EU nicht etwa Teil der Lösung, sondern wird immer mehr zum Teil des Problems.

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