Slawische Kultur ist Mehrzahl – Festival Arsmondo

Am Anfang stand die Revision: Darf man in diesen Kriegszeiten ein Festival der slawischen, also auch russischen Kultur veranstalten? Antwort: Jetzt erst recht! Das Festival Arsmondo bietet einen Monat lang Einblicke in die Vielfalt der slawischen Kultur.

Ein kurzer Sprung in die nahe Ferne – eine Fotoausstellung im Apollonia lässt uns zum Auftakt des Festivals Arsmondo in die Poesie der slowakischen Provinz eintauchen. Foto: Michaela Nagyidaiová, Arsmondo

(Michael Magercord) – Immer aufs Neue müssen wir modernen Menschen es erst wieder lernen: die Geschichte lastet schwer auf der Gegenwart und bestimmt unser Heute. Ja, sagen wir dann, aber uns doch nicht! Wir haben unsere Historie doch längst bewältigt. Wir gestalten unsere Zukunft unabhängig von ihr. Und wenn uns Geschichte wirklich doch nochmal einholt, dann nur, weil wir in die unreflektierten Traumata anderer hineingezogen werden. So wie nun in diesen Krieg im tiefen Osten Europas, der doch nur stattfindet, weil da ein verstörtes Volk noch einmal seinen nicht ausanalysierten Traum von einem längst zerfallenen Imperium lebt und dafür über Leichen geht.

Wie schön wäre es, sagen wir modernen Menschen dann, man könnte die ganze Historie einfach vergessen und nochmal von Neuem anfangen. Und zwar ganz in unserem doch so aufgeklärten Geist, ohne diesen Ballast der Jahrhunderte auf unseren Seelen. Denn genau dort nistet sich Geschichte ein: in den Seelen jener, die immer noch glauben, sie hätten tatsächlich eine schicksalshaft unveränderliche Seele. Je länger darin die selige Geschichte zurückreicht, desto mehr kann sie im beseelten Oberstübchen anrichten. Die Rückschau auf längst Gewesenes kann die davon Beseelten freudig stimmen, aber gleichsam auch traurig machen. Was passiert mit schicksalszarten Seelen, wenn die heutige Zeit so gar nicht mit der Vorstellung vergangener Glorie mithalten will? Oder in ihr die Überzeugung reift, vergangene Schmach gelte es immer noch zu tilgen?

Am Umgang mit der Geschichte ziehen wir moderne Menschen dann eine der Trennlinien zwischen uns und den Zurückgebliebenen, den Ewiggestrigen, denjenigen, die hinter dem Mond leben. Geschichte nämlich, lässt sich bewältigen, aus ihr kann man lernen und schließlich Verantwortung für vernünftiges Handeln ableiten. Und natürlich ahnen wir, wo diese Orte, an denen sich noch ungestört vom grellen Licht der Vernunft leben lässt, vornehmlich zu finden sind, zumal in Europa. Im Osten unseres Kontinents nämlich, dort wo sich schon seit einiger Zeit seltsam abschottende Sichtweisen auf die weite Welt breitgemacht hatten, und wo nun ein Krieg tobt, der seine Ursachen nicht zuletzt in der Betrachtung auf die Vergangenheit hat.

Denn es ist doch auch ein Krieg um Kultur, Identität und sogar die Sprache. Und er spielt sich ab zwischen zwei Ländern, die einem großen Kulturkreis angehören. Sie sprechen eine slawische Sprache, damit aus jener Sprachgruppe, die heute zwar dreizehn unterschiedliche Amtssprachen und dazu noch etliche Idiome umfasst, deren Sprecher aber rund 1700 Wörter teilen. Es ist der europäische Kulturraum, in dem Traditionen bis heute gelebt werden, allem voran in der Musik, egal, ob es sich um Volkslieder handelt oder jene Werke, die wir hierzulande – mal ehrerheischend, mal abschätzig – als Hochkultur bezeichnen.

Und zudem ist die slawische Kultur traditionsbehaftet, selbst das Neuste vom Neusten kann sich kaum von dem Althergebrachten lösen und ihm immer auch etwas Mythischen und Mystisches anhaftet. Von der Geschichte zu lösen, will ihr sowieso nicht gelingen. Die Erzählungen und die Rückschlüsse daraus bestimmen das Sein. Und weil Mutmaßungen aus der Geschichte freudig stimmen können, aber gleichsam auch traurig, weil man erkennt, dass selbst das für ewig Gehaltene flüchtig ist, haftet allem eine Melancholie an, die Schwermut, die russische Toska.

Umgekehrt kann man die Rolle, die Geschichte im Heute spielt, auch leugnen, verdrängen oder vor lauter geläutertem Geschichtsbewusstsein gar nicht mehr wahrnehmen. Könnte nicht sogar die Lebenslüge der Moderne, man könne alles hinter sich lassen und strahlend in die neue Zeit ziehen, nun umgekehrt der Grund sein, dass wir auf anderen, nicht weniger desaströsen Feldern unsere Raubzüge veranstaltet haben? Sind wir nicht in einem geschichtslosen Modernisierungskult verfangen, und zwar als Reaktion auf eine unbewältigte Vergangenheit, der wir nun umso unversöhnlich gegenübertreten? Macht uns der Zwiespalt, den diese Erkenntnis auslöst, nicht ebenso freudig und traurig zugleich? Ist unsere Melancholie einfach nur eine heimliche und verdrängte, die uns moderne Menschen zu anonymen Melancholikern macht?

Ach ja, könnte man doch sagen, wie es um die Seelen wirklich steht. Aber immerhin gibt es eine Sonde, die in das Dunkel hineinfühlen kann: und zwar die Kultur. Hinfort mit dem alten Plunder, brecht alle Tabus und Regeln, schafft Neues um des Neuen willen – dieser Anspruch aus der Hochphase des Modernismus, die immer noch in der Musik, in der Kunst aber auch der Architektur ihre Nachwirkungen zeitigt, stößt doch selbst unter uns modernen Menschen zunehmend auf einen fast schon instinktiven Widerstand. Was regt sich da?

Am besten erkennt man sich selbst immer noch in der Konfrontationstherapie mit dem anderen. Dabei ist es auch egal, ob es das Verständnis des anderen ist, aus dem das Verstehen seiner selbst erwächst, oder das Eigenverständnis erst das Verstehen des anderen ermöglicht. Es wäre sogar egal, ob es gelingen würde, sich und alle zu verstehen. Denn der größte Schritt ist bereits getan, wenn man sich auf einen Versuch dazu einlässt. Und wenn sich das auch noch so angenehm gestaltet, wie durch der Beschäftigung mit der fremden Kultur, und es so einfach gemacht wird, wie mit ihrer Präsentation auf der Bühne, im Konzertsaal und Kino, wie einmal mehr mit dem Festival Arsmondo in Straßburg, dann verlangt dieser große Schritt für die Menschheit doch nur einen kleinen von mir.

Festival Arsmondo Slawia
21. April bis 14. Mai
Konzerte, Filme, Konferenzen, Ausstellungen und eine Oper
Veranstaltungen in der ersten Woche:

Foto-Austellung im Espace Apollonia in Robertsau ab FR 21. April

SA 22. April zwei Konzerte in der Opera du Rhin:
Wind des Ostens – Chormusik mit dem Studio Opera, 11 Uhr
Ukrainisches Jazzquartett Fuz4tet, 19 Uhr

SO 23. April – Konferenz über Kunst im Ukrainekrieg, 15 Uhr im MAMCS

DI 25. April – Konzert des Ensemble Linea, neue slawische Musik, Oper 19 Uhr

MI 26. April – Verleihung des Vaclav-Havel-Preises – Le Studium, 18.30 Uhr

Das komplette Programm und Tickets finden sich HIER!

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