Und wo bleibt das Europäische Parlament?

Auch im April 2021 fällt die Sitzungswoche des Europäischen Parlaments in Straßburg aus. Wie bereits seit über einem Jahr. Die Begründungen sind sehr fadenscheinig…

Seit über einem Jahr verwaist - das Europäische Parlament in Strasbourg. Foto: fotogoocom / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(KL) – In Straßburg ist man sauer. Richtig sauer und das, völlig zu Recht. Seit mehr als einem Jahr finden die hybriden Sitzungswochen des Europäischen Parlaments nicht etwa am Sitz des Parlaments in Straßburg statt, sondern in Brüssel. Denn dort, so heißt es, wäre es „sicherer“. Angesichts der Tatsache, dass seit Beginn der Pandemie die Inzidenzzahlen in Brüssel deutlich höher liegen als in Straßburg, klingt dieses „Argument“ wie Hohn. Ebenso wie andere „Argumente“, die ebenso dünn sind und alle zusammen eher darauf hinweisen, dass man in Brüssel eine Art „feindliche Übernahme“ des Parlaments plant. Der Präsident der „Collectivité Européenne d’Alsace“ Frédéric Bierry will nun die Europäische Mediatorin anrufen.

Es gibt keinen vernünftigen Grund, dass die Aktivitäten des Europäischen Parlaments seit einem Jahr in Brüssel stattfinden und nicht etwa in Straßburg. Angesichts der Tatsache, dass alle Sitzungen „hybrid“ sind, also in Anwesenheit einer geringen Anzahl Abgeordneter, wobei die übrigen per Videokonferenz dazu geschaltet sind, stellt sich die Frage, warum dies in Brüssel möglich ist und nicht etwa in Straßburg. Die sozialistische Abgeordnete Maria Arena aus Belgien (sic!) versuchte es mit dieser Erklärung: „Die Sitzungen finden in Brüssel statt, um die Gesundheit der Menschen in Straßburg zu schützen…“. Als dieses „Argument“ eher Heiterkeit auslöste, legte sie in einer Diskussionsrunde in der Sendung „Dimanche en Politique“ auf France3 noch einen nach: „Und es hat schon mehrere Abstimmungen gegeben, die gezeigt haben, dass die Abgeordneten lieber in Brüssel tagen.“

Die „Abstimmungen“, von denen Maria Arena sprach, haben tatsächlich stattgefunden, auf Initiative der „Single Seat“-Gruppe, die zum Ziel hat, das Europäische Parlament in Straßburg zu schließen und komplett nach Brüssel zu verlagern. Allerdings hatten diese „Abstimmungen“ keinerlei rechtliche Bedeutung, sondern dienten lediglich der Kommunikation, um den Standort Straßburg zu schwächen.

Seit wann ist es Aufgabe von Abgeordneten eines Parlaments, sich den Sitz desselben auszusuchen? Man stelle sich vor, dass die Abgeordneten des Bundestags plötzlich Lust hätten, statt in Berlin lieber auf Sylt zu tagen, weil dort das Rahmenprogramm der Sitzungen wesentlich entspannter wäre. Oder dass die französischen Abgeordneten den Wunsch äußern, aufgrund des besseren Wetters und des reichhaltigen Abendprogramms in Nizza statt in Paris zu tagen. Die Wahl der Parlamentssitze erfolgt nicht etwa zufällig, sondern hat einen Hintergrund. Der Hintergrund des Parlamentssitzes Straßburg ist die europäische Aussöhnung und die Wiedereingliederung Deutschlands in die europäische Familie nach dem II. Weltkrieg. Dazu steht der Parlamentssitz Straßburg für die Gewaltenteilung der europäischen Demokratie – die Exekutive befindet sich in Brüssel mit dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission, die Judikative befindet sich in Luxemburg und die Legislative eben mit dem Parlament in Straßburg. Drei demokratische Grundpfeiler in drei europäischen Ländern.

Der Versuch, die europäischen Institutionen in der „Hauptstadt der Lobbyisten“ Brüssel zu konzentrieren, ist ein Anschlag auf die europäische Demokratie. Insofern hat der Präsident der „CeA“ Frédéric Bierry völlig Recht, die Europäische Mediatorin anzurufen, die paradoxerweise ihren Sitz in Straßburg hat. In einem Schreiben kritisierte Bierry die „schlechte Verwaltung des Europäischen Parlaments seit Beginn der Krise“ und fordert, dass die Sitzungswochen wieder in Straßburg stattfinden. Und das wäre in der Tat höchste Zeit, bevor sich die Lobbyisten in Brüssel durchsetzen und ihren Anschlag auf die europäische Demokratie erfolgreich abschließen. Verlierer einer solchen Entwicklung wären nicht nur die Stadt Straßburg und das Elsass, sondern die 500 Millionen Europäer und Europäerinnen, deren Demokratie den Interessen der rund 30.000 Lobbyisten in Brüssel geopfert würde.

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