Unter süchtigen Mäusen

Letzte Woche war Sitzungswoche im Europaparlament und alle waren da: Auch die, die gar nicht da sein wollten und es doch irgendwie wollen... Hä? Wer steigt da noch durch? Exklusiv für die Leser von Eurojournalist(e) sorgt Uralt-MdEP Nigel Farage schließlich für Aufklärung – also fast...

Der arme Nigel Farage - Abgeordneter wider Willen. Immerhin gibt's ein üppiges Schmerzensgeld... Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY-SA 4.0int

(Von Michael Magercord) – Es ist eines dieser ungeklärten Rätsel über das Wesen des Menschen. Wir können uns selbst kaum erklären, warum es Menschen gibt, die immer wieder Dinge oder Reisen tun, die sie eigentlich gar nicht tun wollen. Um dieser Frage auf die Spur zu kommen, begeben wir uns an den Ort, wo sich quasi unter Laborbedingungen Monat für Monat für knapp eine Woche Hunderte von Menschen zusammen finden, die dort eigentlich nicht sein wollen.

Begeben wir uns also ins Europaparlament zu Straßburg. Dort finden sich so alle vier Wochen Abgeordnete aus ganz Europa zusammen. Zugegeben, Politiker sind eine ganz eigene Gruppe von Menschen mit einer besonderen psychologischen Vorprägung. Aber diese abgeordneten Politiker sind nichtsdestotrotz auch Menschen. Sicher, nicht ganz so welche wie du und ich – das meinen sie nur selbst –, doch trotzdem eignet sich ihr massenhaftes Verhalten, um dem Menschlichen-Allzumenschlichen auf die Spur zu kommen. Nun wollen wir ja nicht in einen despektierlichen Jargon verfallen, aber trotzdem einen erkenntnisreichen Vergleich wagen: Betrachten wir also das Europäisches Parlament einmal als ein Laboratorium, worin dem Verhalten dieser ganz besonderen Sorte Mäuse… oh tschuldigung: „Politiker“ natürlich – auf die Schliche kommen wollen.

Kurz: Kommende Woche kommen die Parlamentarier wieder nach Straßburg und sich in dem riesigen Gebäude im Norden der Stadt zusammenfinden. Das taten sie bereits vorherige Woche und es war eine aufregende Sitzung. Es fiel nämlich am Dienstag eine Entscheidung im fernen Brüssel, die alle in Straßburg Anwesenden in Rage brachte. Die Staatschefs der EU-Staaten hatten den Posten des Vorsitzes der EU-Kommission an eine Frau vergeben, die nicht EU-Parlamentarierin ist. Die Abgeordneten waren darüber zutiefst empört. Ob zu Recht oder Unrecht, ist nicht der Gegenstand dieser Betrachtung. Für uns ist es hingegen interessant zu beobachten, wie die Parlamentarier sich in besonderen Situationen tatsächlich als gesonderte Gesamtheit darstellen, obwohl dies dem Wesen eines Parlamentes widerspricht. Dort verweist man ja sonst eher auf die Unterscheide untereinander als auf Gemeinsamkeiten, und es wird sich in der kommenden Sitzungswoche bei der Wahl der Kommissionspräsidentin erweisen, wie weit diese angebliche Gemeinsamkeit wirklich trägt.

Immerhin, eine Gemeinsamkeit in der Gesamtheit fast aller Parlamentarier gibt es tatsächlich: Sie wollen eigentlich gar nicht dort sein, wo sie sind, sondern lieber ganz in Brüssel bleiben. Fast im Monatstakt beschweren sich Abgeordnete aller Couleur und unabhängig von Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung und Jahre der Parlamentszugehörigkeit über diese Reise von Belgien ins Elsass. Sie sagen zum Beispiel: ihre Straßburger Büros seien zu klein, Käfige beinahe. Die Stadt und Eurometropole Straßburg hat zusammen mit Departement und Region darauf reagiert. Gemeinsam lassen sie für schlappe 30 Millionen Mäuse… oh tschuldigung: „Euros“ natürlich – aus ihren Steuersäckeln ein brandneues und entsprechend scheußliches Bürohochhaus gegenüber dem ungeliebten Parlamentsgebäude errichten. Somit könnten die Abgeordneten, wenn sie denn wirklich wollten, während ihres kurzen Aufenthaltes in Zukunft in größeren Büros residieren. Und all das, damit die Damen und Herren sich nicht so sehr ärgern, dass sie schließlich gar nicht mehr nach Straßburg kommen würden.

Nun wird diese Anstrengung weder das eine noch das andere beeinflussen: weder werden die Abgeordneten, neues Hochhaus hin oder her, aufhören über den Parlamentssitz Straßburg zu meckern, noch bleiben sie einfach in Brüssel. Nein, sie kommen trotzdem. Selbst etliche von jenen, die schon zuvor eine ganze Legislaturperiode von fünf Jahren über die so ungeliebten Reisen gestöhnt hatten, haben sich erneut für weitere fünf Jahre in das Straßburger Parlament wählen lassen. Uns stellt sich da natürlich die Frage: warum bloß? Was treibt sie dazu an, etwas zu tun, was sie nach eigenen Bekunden doch gar nicht wollen?

Ist es staatlich organisierter Zwang? Nein, denn Abgeordneter wird man nicht, weil etwa der Kundenbetreuer des Jobcenters die Bewerbung nahelegt und bei Nichtannahme des Mandats mit der Streichung von lebensnotwendigen Zuwendungen droht. Auf den Job eines EU-Abgeordneten bewirbt man sich freiwillig und zur Jobbeschreibung gehört eine monatliche Dienstreise nach Straßburg. Man weiß also, was auf einen zukommt, wenn man sich um einen der 751 Posten bemüht – erst recht, wenn man schon eine Saison hinter sich gebracht hatte. Ist es dann das Geld, der Salär von bald 7.000 Euros netto – im Monat wohlgemerkt? Der mag vielleicht anfangs durchaus motivieren, wird aber schon bald als angemessen betrachtet und spätestens nach zweiten Legislatur Gewohnheit geworden sein und an Strahlkraft verloren haben. Liegt die Motivation, Abgeordneter zu werden und zu bleiben, also doch in der Vorstellung, man verfolge durch das Mandat eine gewichtige Mission? Da könnte durchaus etwas dran sein, hätte man nicht den Eindruck, dass dieser Idealismus von dem Alltag im Politikbetrieb ziemlich schnell in den Hintergrund gedrängt wird.

Besser also, man fragt einen Abgeordneten – und am besten einen, der von sich behauptet, absolut nicht mehr nach Straßburg kommen zu wollen, ja, eigentlich nie kommen wollte, und doch nun schon seit zwanzig Jahren regelmäßig kommt; einen, der wie kein zweiter den inneren Widerspruch lebt, ihn nicht verbirgt, ja gerade zu verkörpert; einen exemplarischen Typus dieser freiwilligen Unfreiwilligen also, an dem sich schließlich aufzeigen lässt, dass es mit ihnen letztlich umgekehrt bestellt ist: sie sind nämlich unfreiwillige Freiwillige.

Vor den Eingängen zum großen Plenarsaal im Straßburger Parlamentsgebäude verläuft ein langer Flur. Der das ist, was man in einem Sportstadion eine Mixed Zone nennt, also die Zone der Begegnung zwischen Politkern und einer andere, ebenso seltsamen Sorte Mäuse… oh tschuldigung, wir wollten ja despektierlich werden: wo also Politiker auf „Journalisten“ treffen. Dort herrscht immer ein ständiges Kommen und Gehen, doch vorletzten Mittwoch ging es nach der Entscheidung in Brüssel für Ursula von der Leyen besonders heiß her. Allenthalben gaben die empörten Abgeordneten hektische Interviews für Presse, Funk und Fernsehen – nur einer hatte in all dem Trubel die Ruhe weg: Nigel Farage, der Brexit-Mann der ersten Stunde.

Farage ist schon ein alter Bekannter, der sich jetzt zum fünften Mal in Folge in ein Parlament hat wählen lassen, in das er angeblich nie wollte. Seinen großen Auftritt hatte er bereits einen Tag zuvor am Dienstag gehabt, als er und seine Getreuen sich mit dem Rücken dem Plenum zuwandten, während dort die Europahymne vorgetragen wurde. Das hatte er bereits vor fünf Jahren auch getan, damals noch von Marine Le Pen, die bloß sitzen geblieben war, um die große Show beneidet. Nun tat er es wieder und die sicher bestens kalkulierten Reaktionen haben nicht auf sich warten lassen: empörte Kollegen und Journalisten – kurz: es war ideal gelaufen für die Brexiteers, und ihr Chef Nigel Farage hat damit alles erledigt, was er sich für die kommenden fünf Jahre als Europaparlamentarier vorgenommen hatte.

Entsprechend locker konnte er sich einen Tag später den Journalisten geben. Er nahm sich viel Zeit für jeden, der sich noch für ihn und seine Hoffnungen interessierte: Wie wird es mit dem Brexit weitergehen? „Da ist noch alles möglich!“ Wolle er noch britischer Premierminister werden? „Das ist bei Gott das schlimmstmögliche Szenario!“ Wie fühlt es sich an, wieder in Straßburg zu sein? „Schrecklich, ich bin doch eigentlich kein Politiker, sondern Geschäftsmann!“ – und siehe, da war sie wieder die Frage, warum jemand an einem Ort ist, wo er nicht sein will? Mission? Die könnte er auch anderswo verfolgen. Geld? Eher nicht, denn nach den ersten zwanzig Jahren Parlamentszugehörigkeit hat der Abgeordnete Nigel Farage den Höchstsatz des Altersruhegeldes bereits erreicht.

So bleibt also letztlich nur noch eine letzte Möglichkeit, warum ein selbst erklärter Geschäftsmann immer noch Politiker ist. Die Stimmung war gelöst, die Zunge auch, Zeit für eine persönliche Frage – und siehe gegenüber dem Eurojournalist(e) spricht er als einer der wenigen ganz offen über seine tatsächliche Motivation, um nicht zu sagen Neigung, wieder und wieder nach Straßburg zu kommen: Trägt Politik, so die Frage an Farage, nicht einfach bloß einen Suchtfaktor in sich? „Hmmyaeh“, windet er sich beinahe wie ein ertappter Süchtiger, um dann Folgendes zu erklären: „Sowohl in der Geschäftswelt als auch der Politik bewegt man sich auf unberechenbarem Terrain, doch in der Geschäftswelt trifft man immer dieselben Typen, in der Politik ständig neue Leute, das ist schon etwas, was man nur schwer missen mag“.

Süchtig oder nicht – sicher ist, dass er am kommenden Dienstag wieder in Straßburg ist und wohl lässig durch die Flure wandelt und allen Leuten, die es hören wollen, sagt, wie sehr er darunter leide, hier zu sein…

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