Vom Wege abgekommen mitten im Leben

Die Rheinoper Straßburg zeigt ab Freitag in ihrer neuen Produktion von Verdis „La Traviata“, wie es auch im normalen Leben schon dramatisch genug zugehen kann.

9 Aufführungen der "Traviata" in Strassburg und Mulhouse erwarten das Publikum am Oberrhein. Umwerfend. Foto: Opéra National du Rhin

(Michael Magercord) – Wie so oft, wenn ein Kunstwerk zu normal daherkommt, stellt sich die Frage, was ist daran Kunst? Als Giuseppe Verdi in der Oper „La Traviata“ seine weibliche Hauptfigur eines natürlichen Theatertodes sterben ließ, war 1853 bei der Uraufführung in Venedig der Skandal perfekt: Kein Selbstmord, kein Eifersuchtsgemeuchel? Der betrogene Liebhaber sticht weder zu, noch schießt er um sich oder würgt seine untreue Geliebte? Nein, sie stirbt einfach an einer banalen Schwindsucht – und das soll Kunst sein?

Heute sind wir ja eher froh, wenn die überspannten Gefühlswelten so mancher unserer Zeitgenossen sich nicht gleich in Mordgelüste verwandeln. Aber gefühlslos ist diese im Laufe der seither vergangenen und teils doch ziemlich gewaltätigen eineinhalb Jahrhunderte zum Klassiker gewordene Oper deshalb noch lange nicht. In Gegenteil, die unerfüllte Liebe ist es, die die Bühnenwelt erfüllt. Die Halbweltdame Violetta zieht zu ihrem Ex-Kunden und Liebhaber aufs Land, wo sie aber in der Gestalt des Vaters ihres Bräutigams auf einen weiteren Ex-Kunden trifft. Aus der erhofften Ehe der „la traviata“, der vom rechten Wege Abgekommenen, wird nichts, sie kehrt in die sündige Stadt zurück. „Sempra libre“, heisst ihr Wahlspruch: Immer frei sein. Daran hält sich Violetta, selbst wenn sie die Krankheit und der Tod heimsucht, während auf den Straßen von Paris Karneval gefeiert wird.

Verdi diente der Roman „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas als Vorlage, und da der Komponist ein ausgesprochener Pessimist gewesen sein soll, spielt in seiner Musik – ähnlich den Filmen von Woody Allen – das unterbewußte Bewußtsein über die Sterblichkeit des Menschen die Hauptrolle. Es mag die plötzliche Erkrankung sein, die ihn bringt, es mag drumherum der Karneval toben, musikalisch ist der Tod immer präsent. Unerbittlich läuft der Countdown des Lebens, selbst wenn die letzte Arie, mit der Violetta noch in den höchsten Tonlagen gegen ihr Sterben ansingt, schon erstickt ist, wird das Leben in der Monotonie des finalen Sechs-Achtel-Taktes weiter ausgezählt, bis zum unerbittlichen Schluss. Verstörend, ganz so, als hätte Guiseppe Verdi bereits Woody Allen zitiert, der dasselbe eineinhalb Jahrhunderte später allerdings etwas schnörkelloser ausdrückt: „Der Tod? Ich bin strikt dagegen!“

Wer diese große Kunst und ihre anspruchsvolle gesangliche Umsetzung im wahrsten Sinne des Wortes „erleben“ will, dem bietet die Rheinoper in Straßburg ab Freitag und im neuen Jahr in Mülhausen in insgesamt neun Aufführungen in einer komplett neuen Inszenierung eine beste Gelegenheit.

Informationen und Karten: www.operanationaldurhin.eu

Aufführungen in Straßburg:
11., 13., 15., 21., 23., 27. und 29. Dezember 2015

…und in Mulhouse:
8. und 10. Januar 2016

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