Warten auf Erwartung

Im Rahmen des Festivals MUSICA beginnt die neue Saison an der Rheinoper von Straßburg fast schon traditionell mit einem neuen Werk – wobei dieses Mal zwar das Libretto neu ist, nicht aber die Musik.

Solveig im Wartestand - Peer Gynt in der Rheinoper (ohne Peer Gynt)... Foto: (c) OnR

(Michael Magercord) – Ausgerechnet auf  Peer Gynt, den größten Lügner und Aufschneider des Nordens, wartet die schöne Solveig. Ausgerechnet Henrik Ibsen, der größte Dramatiker des Nordens, hat aus dem feenumwitterten  Märchen eine Verballhornung des romantischen  Nationalismus werden lassen. Und ausgerechnet Edvard Grieg, der größte Komponist des Nordens, hat diese Anti-Traditionsdichtung mit seiner national-romantischen Musik in ein melancholisches Musikschauspiel verwandelt.

Peer Gynt, der Phantast: zu Hause in einer ärmlichen Behausung, die ihm als Palast erscheint, zieht er sich vor dem Gespött der Menschen im Wald zu Trollen zurück, macht sich auf zu einer Weltreise, wird durch Sklavenhandel steinreich in Marokko, dann selbst versklavt, flieht in eine Oase, wird ausgeraubt von einer Jungfrau, landet schließlich nach Affenangriffen im Irrenhaus in Kairo, das ausgerechnet ein deutscher Seelenarzt mit dem schönen Namen Doktor Begriffenfeldt leitet. Alt und verarmt kehrt der naive Narr nach 30 Jahren heim, wo ihn Solveig, die einst hintergangene und dann verschmähte Tochter aus gläubigem Hause, voller Sehnsucht und Liebe erwartet.

Zeitgenossen spotteten über den Unsinn. Die albernste Geschichte, die er je gelesen hätte, sagte etwa der berühmte dänische Märchenerzähler Hans Christian Andersen. Und damals, nämlich 1867, hieß es nach der Uraufführung der Oper im damaligen Christiania, dass ihre Elemente unmöglich zusammen kommen können: die alberne Story, das ironische Drama, die weiten Melodiebögen. Eine zusammengewürfelte Kolportage sei das kaum als Werk zu bezeichnende Stück. Das konnte ja nur schief gehen, und zwar so sehr, dass Peer Gynt heute als die Oper des Nordens schlechthin gilt und somit ausgerechnet dieser nichtsnutzige Sohn eines verarmten Bauern, der der Realität durch Lügengeschichten und verwegenen Abenteuer zu entfliehen versucht, nun der bekannteste Norweger geworden ist – außer Rune Bratseth natürlich…

Peer Gynt jedenfalls hat nach dem Siegeszug der Oper einen eigens ihm gewidmeten Museumshof rund 200 Kilometer nördlich von Oslo erhalten, und Edvard Griegs betörendes Klagelied der Solveig ist das in der weiten Welt meistgesungene Lied auf Norwegisch. Allerdings sind 150 Jahre eine lange Zeit, und da sich seither so einiges in unseren Gesellschaften verändert hat, wurde es wohl Zeit, das seltsame Zwitterwesen einer Revision zu unterziehen. Das machen in der Rheinoper der norwegische Autor Karl Ove Knausgaard und der spanische Regisseur Calixto Bieito mit einer für unsere Zeit üblichen Volte: die Frauengestalt wird zur eigentlichen Heldin. Nicht Peer Gynt hat die Hauptrolle, sondern die liebende Solveig, die vom vermeintlichen Helden einst verführt wurde, bietet die Erzählperspektive.

Das treue Warten auf den Aufschneider als Heldinnenpose? In der Schluss-Szene der Oper rettet die mutig gewordene Solveig, die doch ein Leben lang immer nur gewartet hatte, ihren Geliebten vor der keifernden Meute, die sich für die vielen Lügengeschichten rächen will. Ausgerechnet diesen Kerl, der von sich sagt, er sei letztlich kaum mehr als eine Zwiebel: viele Hüllen, aber ohne Kern, ein Mann ohne Eigenschaften. Doch da sein idealisiertes Sein im Herzen der liebenden Solveig die ganze Zeit über fortlebte, überlebte er die Niederlage der Rückkehr schließlich als eine in sich geschlossene Persönlichkeit – auch ohne Doktor Begriffenfeldts Hilfe.

Und mutig, ja geradezu abenteuerlich sind auch die beiden Männer, Autor und Regisseur, die ausgerechnet heutzutage, ausgerechnet mithilfe einer Frauengestalt ausgerechnet eine passive Daseinsweise des Ausharrens und Wartens zu einer würdevollen Haltung zur Welt erheben. Aber klar, die Oper ist vielleicht einer der letzten dieser Orte, wo die Rollenverteilungen aus vergangenen Zeiten etwas länger ihre Gültigkeit bewahren als anderswo, geben doch die Singstimmen ihre Zuordnung vor.

Und so darf, um der Erinnerung ihrer Liebe treu zu bleiben, eine junge Frau für den Rest ihres Lebens in selbstlosem Warten verharren. Verzweiflung und Verherrlichung – so die Macher dieser neuen Version einer alten Konstellation – sind die Begleiter dieser Forschungsreise „durch unbekannte Landschaften der menschlichen Seele“ und versprechen eine “einzigartige Erfahrung“. Und dazu kommen die wunderschönen Liedwerke aus dem hohen Norden. Das alles nach immerhin über einem halben Jahr Opernzwangspause – warten lohnt sich eben doch…

Solveig (Die Erwartung)
Eine symphonische Passion nach Henrik Ibsens „Peer Gynt“
Musik von Edvard Grieg
Libretto von Karl Ove Knausgård

Regie und Konzept: Calixto Bieito
Musikalische Leitung: Eivind Gullberg Jensen
Videodesign: Sarah Dereninger
Sopran: Mari Eriksmoen – Bariton: Laurent Koehler
Philharmonie Straßburg

Oper Straßburg
SA 19.September, 20 Uhr
SO 20. September, 15 Uhr
DI 22. September, 20 Uhr
MI 23. September, 20 Uhr

Infos und Karten unter: www.operanationaldurhin.eu

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