Brave Brits!

Die Briten kehren der EU den Rücken, wie schon vor zwei Jahren die frisch ins Europäische Parlament gewählten UKIP-Abgeordneten der „Ode an die Freude“ – aber ein schöner Rücken kann ja bekanntlich auch entzücken.

War die Abstimmung für den "Brexit" am Ende nur der Schrei nach einem einfachen, stressfreien Leben? Foto: User:Riddle.K / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(Von Michael Magercord) – Mann, haben die Mut, diese Engländer. Nicht wie die Schotten vor drei Jahren. Oder wie’s vielleicht im Elsass, Bayern oder gar Baden laufen würde: In der Kneipe noch das große Wort führen von Unabhängigkeit, Autonomie, Souveränität, Identität und was noch alles, aber im Wahllokal dann doch daran denken, wie einsam es so ganz allein in der Welt werden kann.

Aber nun diese Engländer. Die sind mutig – und übermütig. Haben sich mal eben ihr Mütchen gekühlt an einer ungeliebten Superorganisation und ihren Eliten. Und fast möchte man sagen: zu Recht. Endlich wagt es mal ein ganzes Volk, diesem Elitenprojekt seine Grenzen aufzuzeigen – koste es, was es wolle. Und das kostet, nicht nur Geld. Pfund- und Kursabsturz, der Umzug der Lackaffen der Londoner City nach Frankfurt Innenstadt – geschenkt. Schlimmer wiegt der Verlust des ewig Bösen, des ewig Schuldigen. Denn souverän geworden und ganz ohne das elitäre Brüssel kann man sich nur noch an den eigenen Eliten abarbeiten.

Und elitär sind sie nun mal alle, die sich an die Spitze einer staatlichen Organisation vorarbeiten wollen – egal, ob die so demokratisch ist wie England, oder so halb undemokratisch wie die EU, und egal, ob deren Machtprojekt nun in London oder Brüssel verortet ist. In der EU allerdings haben sich die Eliten ein doch so bequemes Narrativ zurecht gelegt, wenn mal irgendwer was zu meckern hatte: „Läuft alles super bei uns, wird leider nur schlecht kommuniziert“, was ja auch immer heißt: „Sind alle ziemlich blöd, die uns nicht toll finden“. Wenn man so wieder den Briten und allen ihren potenziellen Nachahmern entgegen tritt, kann man es gleich ganz lassen – die EU wohlgemerkt, nicht bloß das Kommunizieren darüber.

Es ist eben keine ausreichende Erklärung für das Votum der Engländer, sie seien skrupellosen Populisten aufgesessen. Bleibt nämlich die Frage, wie die überhaupt so populär werden konnten? Wie konnte es geschehen, dass irgendwelche Klopsköppe, die nichts weiter für sich beanspruchen, als der Meinung der Mehrheit nach dem Munde zu reden, sich wahlwerbend als verfolgte Rebellen verkaufen können? Oder dass die gewählten Vertreter dieser Brut der Meinungsfreiheit im EU-Parlament, wenn sie gegen die gefühlte Hegemonie Deutschlands in Europa wettern, zu deren Beweis im selben Atemzug die harte Haltung gegenüber Griechenland und die weiche gegenüber den Flüchtlingen ins Felde führen können?

Es ist ja schon schwer genug, die Motivation dieser so unterschiedlichen Politikansätze unter einen Hut zu bringen. Am besten könnte dazu vielleicht noch die protestantische Mitleidsethik herhalten, die zur Bestimmung der berechtigten Hilfsempfänger unterscheidet zwischen selbst Schuld (Griechen) und unschuldig (Flüchtlinge). Noch schwerer wird es sein, Populisten immer nur mit dem Vorwurf in Schach halten zu wollen, dass sie Probleme nur benennen würden, aber keine Lösungen parat hätten. Haben die, die ihnen das vorwerfen, nämlich selber nicht. Und um das nun irgendwie unter einen Hut zu bringen, muss die Elitenethik herhalten, die da lautet: die Welt ist so kompliziert geworden, dass es keine einfachen Lösungen mehr gibt.

Einfache Erklärungen aber scheinar schon, zumindest für den Brexit. Etwa diese: Dort, wo in England für den Brexit gestimmt wurde, sieht es wirtschaftlich düster aus. Was könnte die EU machen? Zur Sozialunion werden, heißt es nun. Aber wie? Auf wirtschaftliche Freizügigkeit kann man sich in einem gemeinsamen Markt schnell einigen, aber auf soziale Standards? Wenn es noch einen Bereich gibt, in dem sich die Mentalitäten der unterschiedlichen Nationen offenbaren, dann in der Frage der Organisation ihrer Wohlfahrt. Was wäre der gemeinsame Maßstab? Der Funktionärsstaat a la française? Das neoliberale Kulturgemeinschaftsmodell in Osteuropa? Oder das Fordern und Fördern im Reich der Arbeitsagentur? Hinter solchen Konzepten verbergen sich ganze Menschenbilder, die so verschieden sind, dass sie nur schwer zu einem Gesamtkunstwerk zu formen wären.

Noch eine Erklärung: Angst. Angst vor Fremden, vor Offenheit, Ängste also, die man in sich besser wähnenden Kreisen gerne auch mal mit dem Adjektiv „diffus“ betitelt. Dabei soll man doch Angst haben, sie gehört zum Eltiteprojekt „Wachstumszone Europa“. Denn Angst ist das Grundgrummeln in Zeiten, in denen einzig der Markt auch Menschen regieren soll. Diese Angst lässt sich nur zeitweilig mit frei handelbaren Konsumgütern übertünchen. Meist nur solange, wie sich deren Konsum stetig steigert. Und wenn nicht, wovor grassiert dann die Angst? Vor den Fremden, den Anderen, dem Verlust an eigener Identität, sagt man so. „Diffus“ antwortet man so.

Dabei ist es gar nicht solange her, dass sich Wutbürger gerade aus gut konsumierenden Kreisen rekrutierten. Da ging es – vordergründig – um ein elitäres Bahn-Großprojekt in Deutschlands autoreichster Stadt. Und die Wut wurde glattgebügelt in endlosen Schlichtungsrunden über Gleislängen und Taktfrequenzen. In Wirklichkeit aber ging es vielleicht um etwas ganz anderes, was aber in solchen Diskussion nicht als satisfaktionsfähig gilt: Angst vor Veränderungen oder der Verlust der liebgewonnenen Umwelt, und bestehe diese auch nur aus einem alten Bahnhof und ein paar Parkbäumen. Wo Wut vermutet wird, verbirgt sich da nicht bloß ein Verlangen nach so etwas wie Geborgenheit?

Aus der Wut ist in England Mut geworden, der Mut der Verzweiflung. Es ist ja nicht die Generation „Erasmus“, sondern die Generation „Lasst uns“. Lasst uns zufrieden mit euren Eliteprojekten – und so mancher aufrichtige Demokrat mag darüber stöhnen, dass diese Generation nun plötzlich wieder zur Wahl geht oder bei Referenden mitmacht. Und vermutlich haben diese Leute aus unmittelbar persönlicher Erfahrung ein Gespür dafür, dass die Rechnungen dieser Projekte letztlich sie bezahlen müssen, ob mit Geld für Bankenrettungen, das dann anderswo fehlt, oder in den immer härteren Schlachten im Mindestlohnsektor und um günstigen Wohnraum.

Bislang werden deren Sorgen meist abgebügelt: Fordern und Fördern muss genügen. Nur wenn der versteckte Ruf nach sozialer Geborgenheit umschlägt in diffuse Ängste gegen alles Fremde, und die sich dann noch in wirren Phrasen äußern (Pegida und Genossen), entlockt man der Elite doch noch Reaktionen, und wenn es nur die ist, von denen da oben als Pack bezeichnet zu werden (Genosse Wirtschaftsminister Gabriel). Aber leider ist auch das wieder nichts als schlechte Kommunikation. Zu spät nämlich. Und ein bisschen sozihaft obendrein.

Aber das ist nun einmal das Problem aller, die diesen Übermut der Verzweiflung von links wieder bändigen wollen. Im ihren Programmen steht, dass der kleine Mann, den sie doch vertreten wollen, nicht so bleiben darf, wie er ist. Er soll sich bilden, Chancen bekommen, sie nutzen, daran wachsen, Aufstieg dank Qualifizierungsmaßnahmen – er muss sich eben fordern und fördern lassen. Der Vater des Erfolgs der unqualifizierten Aussagen der Populisten ist vielleicht, dass sie das Gegenteil besagen: „Bleibt wie ihr seid, ihr seid schon richtig so“. Sie bieten die Geborgenheit des Nichtbesserwissenmüssens. Ein Reservat für all die Unzeitgemäßen, die vielleicht einfach ihre halbwegs gesicherte Ruhe haben wollen vor der nervigen Welt da draußen – koste es die Londoner City doch was es wolle, von deren Gewinnen haben die eh nichts mehr. So gesehen hätte der Brexit fast etwas von einem großangelegtem Rückzug aufs Land: Allein und bescheiden als Selbstversorger leben – frei wie ihre Schafe, die ab sofort keine Brüssler Ohrmarken mehr tragen müssen.

Klingt gar nicht so übel, oder? Jedenfalls sollte das Geblöke der englischen Aussteiger ein Weckruf für die EU sein. Klar, von einem Weckruf sprechen jetzt ja sowieso alle, die es weiterhin mit diesem Europa halten. Wäre aber nicht der erste gewesen. Bei der letzten EU-Parlamentswahl hätte man es schon blöken hören können. Bleibt allerdings abzuwarten, ob dieser auch wieder verpennt wird.

Hellwach sind sie nun, die Politiker, Redner und Kommentatoren, immerhin, aber was wäre zu tun? Vorschlag: Wie wär’s mal mit weniger? Mal die etwas einfachere Lösung suchen, welche ohne komplizierte Verordnungen oder Programme mit undurchschaubaren Vergabeformularen. Die wirken sowieso eher als Beschäftigungstherapie für Eurokraten, die sie sich ausdenken, und alle, die sich daran versuchen, sie auszufüllen. Oder einfach mal ein paar simple Zusammenhänge erkennen, zum Beispiel jenen zwischen der ewigen Streben nach dem unmöglichen ewigen Wachstum und dem Auseinanderfallen der Gesellschaften und ihren sozialen und regionalen Geografien in immer reicher und immer ärmer.

Brexit als Therapie vom Wachstumswahn? Nicht schlecht, aber wohl nur ein kurzer Traum. Dann aber sollte es wenigstens für ein paar bessere Ideen reichen, wie man den Populisten den Wind wieder aus ihren derzeit prallen Segeln nehmen könnte. Ist es nicht zum Beispiel traurig, dass etwa in Österreich ausgerechnet die rechte FPÖ das bedingungslose Grundeinkommen im Programm hat? Eine Idee und ein damit verbundenes Menschenbild der Angstfreiheit, die eigentlich politisch in ganz andere Lager gehören müssten, dort aber lange Zeit – zu lange – gar nicht erst als satisfaktionsfähig erachtet wurden. Wäre aber nun doch was, womit sich das Europäische Parlament und – welch schwelgende Träumerei – die Kommission endlich einmal ernsthaft befassen könnte.

Ja, es gibt viel zu diskutieren, zu reden und zu sagen, und schließlich vielleicht auch zu tun, nur eines nicht: Engländer-Bashing. Dazu waren sie nämlich viel zu mutig! Oder übermütig. Was in diesem Falle auf’s gleiche hinausläuft, denn egal: plötzlich stellen sich uns endlich so viele verschleppte Fragen, ganz konkret. Und sie lauern auf Antworten, die müssen noch nicht ganz so konkret sein, können aber vielleicht neue Wege aufweisen. Wenn das alles auch nur halbwegs gut läuft, werden wir uns noch einmal bei den Engländern bedanken. Wir, die Europäer.

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