Warum „orbanisiert“ sich Frankreich?

Seit Beginn der Pandemie hat die französische Regierung eine ganze Reihe Gesetze und Dekrete erlassen, mit denen grundlegende Freiheiten beschnitten werden. Und es wird immer schlimmer...

Der Straßburger Fotograf Nicolas Rosès gehört zu denjenigen, die künftig nicht mehr frei berichten können... Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – Gestern erlebte Frankreich den ersten Tag der Lockerungen des „Lockdowns“, die Geschäfte durften wieder öffnen und die stark kritisierte Regelung, nach der man sich nur in einem Umkreis von 1 Kilometer (!) rund um seine Wohnung herum 1 Stunde lang bewegen durfte, wurde auf 20 Kilometer und 3 Stunden aufgebohrt. Ein Stückchen Freiheit. Und strömten die Französinnen und Franzosen alle in die Innenstädte, um durch Einkäufe ihre Solidarität mit den Einzelhändlern zu bekunden? Das taten viele, die anderen – gingen demonstrieren. Gegen den Artikel 24 des neues Gesetzes zur „globalen Sicherheit“. Denn faktisch schafft Frankreich die Pressefreiheit ab.

Der hoch umstrittene Paragraph 24 des neuen „Gesetzes zur globalen Sicherheit“ verbietet es, Polizisten zu filmen, wenn dies die Absicht verfolgt, „der physischen oder psychischen Integrität [der Polizisten] zu schaden“. Angesichts der immer zahlreicheren gewaltsamen Übergriffe der französischen Polizei, bei denen man schon lange nicht mehr von „Einzelfällen“ reden kann, ist diese schwammige Formulierung die faktische Abschaffung der Pressefreiheit. Denn es reicht, dass ein zart besaiteter prügelnder Polizist seine „psychische Integrität“ belastet sieht, wenn er seine Prügeleien auf Video oder als Foto sieht. Dieser Paragraf, zu dem sich Premierminister Castex beeilte zu erklären, dass er ihn neu fassen will, war gestern Gegenstand zahlreicher Demonstrationen in ganz Frankreich, wo man langsam merkt, was für ein Repressions-Arsenal die Regierung in den letzten Monaten eingerichtet hat.

Mehrere Dutzend Journalisten und Medienschaffende versammelten sich gestern Mittag auf dem Straßburger Platz der Republik, um gegen diese Einschränkung der Pressefreiheit zu protestieren, die zuallererst Journalisten betrifft, letztlich aber auch jeden Bürger und jede Bürgerin. Denn Handyvideos von polizeilichen Übergriffen werden ebenso strafbar für Amateure wie für Profis.

Maßnahmen, wie sie Frankreich seit Monaten mit oder ohne Zustimmung des Parlaments verabschiedet, kennt man eigentlich nur aus Ländern wie Ungarn oder der Türkei. Gerade in den letzten Tagen wurden mehrere brutale und völlig überflüssige Übergriffe der Polizei durch Videoaufnahmen dokumentiert, die teilweise zur Suspendierung der überführten Polizisten führen. Ohne diese Videoaufnahmen hätte man die Übergriffe nicht nachweisen können und die Öffentlichkeit hätte nicht von ihnen erfahren. Nur – künftig wird es strafbar, solche Aufnahmen zu machen.

Die faktische Aufhebung des Schutzes personenbezogener Daten, die Übertragung des Demonstrationsrechts von der Justiz auf die Verwaltung, Überwachungen und Kontrollen allerorten, eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit, und nun Eingriffe in die Pressefreiheit – die internationale Presse macht sich zurecht Sorgen um den französischen Weg. Soziale Konflikte werden durch Repression „gelöst“ und sollten die von der aktuellen Regierung geschaffenen Instrumente noch extremeren politischen Kräften als der Macron-Partei „La République en Marche“ in die Hände fallen, kann sich Frankreich von einem autoritären in einen totalitären Staat verwandeln.

Interessant ist dabei, dass speziell Präsident Macron nicht müde wird, die Einschränkungen demokratischer Grundrechte in anderen Ländern zu kritisieren, mit dem Finger auf Polizeimethoden in Moskau zu zeigen, obwohl die Polizei in Paris gleich und teilweise sogar noch härter vorgeht und gleichzeitig dank des ausgerufenen „sanitären Notstands“ ebenso agiert wie diejenigen, die er selbst kritisiert.

Aber warum richtet die aktuelle Regierung einen solchen Repressions-Apparat ein? Hintergrund ist, dass es die „Macronie“ nicht geschafft und vor allem, nicht für nötig gehalten hat, die schwelenden sozialen Konflikte im Land zu befrieden und zu lösen. Die vor seiner Wahl von Macron versprochene „neue Welt“ hat sich als die „alte Welt im Amateur-Modus“ entpuppt. Doch in Ermangelung echter politischer Alternativen zieht Macron nun diese repressive Linie konsequent durch, in der Hoffnung, sich bis zu den nächsten Wahlen 2020 durchhangeln zu können.

Die Mahnungen der gestern auf dem Platz der Republik in Straßburg versammelten Journalisten werden ungehört verhallen. Wahrscheinlich werden wir so lange warten, bis es zu spät zum Handeln ist. Die Pandemie ist schlimm, doch genau so schlimm ist es, dass sie als Vorwand für die Abschaffung von Grundrechten dienen muss, für die Generationen von Französinnen und Franzosen gekämpft haben. Nun werden diese Grundrechte Stück für Stück abgeschafft – wohin so etwas führt, zeigen viele Beispiele aus der Geschichte, speziell auch in Deutschland. Für „Wehret den Anfängen“ ist es eigentlich schon zu spät…

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