Warum sich Frankreich in die Krise stürzt

Unsere französischen Nachbarn sind gerade dabei, nachhaltig das Bild ihres Landes zu zerstören. So sinnlos das erscheinen mag – es gibt gute Gründe dafür.

Die schönste Stadt der Welt im schönsten Land der Welt - führt gerade Krieg gegen sich selbst... Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY-SA 4.0int

(KL) – In einem Punkt hatte Präsident Emmanuel Macron in seinem „Brief an die Franzosen“ Recht – Frankreich ist kein Land wie jedes andere. Entweder ist man in Frankreich seiner Zeit weit voraus, oder aber man hinkt der Aktualität weit hinterher. Dazwischen gibt es nicht viel.

1789 waren die Franzosen allen anderen weit voraus. Die Französische Revolution beendete die Monarchie in Frankreich, stellte die beiden ersten Stände (Adel und Kirche) in Frage und verschaffte „dem Volk“ erstmals Präsenz und Gehör in einer neuen politischen Lage. Damit waren die Franzosen allen anderen Völkern weit voraus und viele darauf folgende Revolutionen in anderen Ländern bezogen sich auf die Französische Revolution und ahmten diese nach. Das französische Volk hatte den Menschen in ganz Europa ein neues Selbstbewusstsein gegeben und die Gesellschaft neu geordnet.

1968 war es dann schon etwas anders. Zwar glauben heute immer noch viele, dass die Welle der Revolte, die 1968 über Europa schwappte, in Frankreich gestartet worden sei, doch das stimmt nicht. Die Jugendrevolte von 1968 hatte bereits 1965 in den USA begonnen, wo sich die Jugend gegen den Vietnam-Krieg stellte und es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der amerikanischen Nationalgarde und den Studenten kam. Dadurch, dass zahlreiche Künstler und Intellektuelle der „Beat Generation“ in der Folge aus den USA nach Paris kamen (Kack Kerouac, William S. Bourroughs, Tom Norse etc.), sprang der Funke der Revolte von den USA aus erst nach Frankreich über und von dort in andere europäische Länder.

2019 verhält es sich wiederum ganz anders. Die Zeiten haben sich geändert und heute ist Frankreich ganz weit im Hintertreffen, was die Organisation des Staats anbelangt. Bei der aktuellen Revolte der „Gelbwesten“ geht es nicht um die Freiheit des Volks, es geht auch nicht gegen die zahlreichen Kriege in der Welt, nein, es geht um – „Kaufkraft“. Um mehr Konsum. Und das in einem Land, dessen Interpretation des Konzepts der „politischen Macht“ ein reiner Anachronismus ist. Die französische Demokratie ähnelt einem Feudal-System, was man nicht zuletzt bei der Hollywood-Show bei der Inthronisierung von Emmanuel Macron erkannte, als dieser würdig zu den Klängen von Beethovens Neunter über den Hof des Louvre schritt und dabei vor allem eines vermittelte: „L’état, c’est moi“.

Die französischen Institutionen sind heute noch nach napoleonischen Konzepten organisiert, stramm zentralistisch organisiert und der Pomp, mit dem sich Frankreichs gewählte Würdenträger selbst inszenieren, erinnert an die Zeiten des Wiener Kongresses, nicht aber ans 21. Jahrhundert. Diese Art der Macht-Inszenierung kommt um Jahrhunderte zu spät und passt überhaupt nicht mehr in die heutige Zeit.

Die „Gelbwesten“ lehnen sich nicht nur gegen soziale Ungerechtigkeiten auf, es geht nicht nur um die Steuerlast, die ungerechte Verteilung von Reichtum, sondern es geht um den Staat und seine Organisation als solche. Wenn man durch Paris schlendert und an jeder Ecke die Insignien der Macht sieht, dann erkennt man, dass Frankreich fast ein Jahrhundert verschlafen hat. Heute wird Politik weltweit als etwas ganz anderes betrachtet als in Frankreich. Moderne Politik wird von Menschen gemacht, die als „Primus inter pares“ im Sinne und Auftrag der Bürgerschaft handeln, während in Frankreich ein mit unglaublicher Machtfülle ausgestatteter Monarch über sein Volk herrscht. Und das sind ganz unterschiedliche Ansätze.

Macrons Problem dabei ist, dass es diese Machtfülle nicht zum Nulltarif gibt und der französische Präsident hat einen riesigen Fehler begangen, als er sich als mehr oder weniger göttlich inspirierter Staatenlenker inszenierte. Von einem „Halbgott“ erwarten die Menschen Wunder, vom Göttervater „Jupiter“ erwarten sie die Wunder noch etwas schneller. Doch Macron ist „nur“ Präsident und kein Gott, kann leider keine Wunder vollbringen und kann deswegen sein Volk nur enttäuschen. Was er ja gerade auch ausgiebig tut.

Wir leben nicht mehr im 18., auch nicht im 19. oder 20. Jahrhundert, sondern im Zeitalter der „Technologischen Revolution“. Mit deren Instrumenten sollte es möglich sein, sinnvolle Reformen des Staats zu erdenken und diese umzusetzen, was es Frankreich ermöglichen würde, im 21. Jahrhundert anzukommen.

Wie dringend die Reform der Staatsstruktur ist, erkennt man unter anderem daran, dass sich Frankreich einen riesigen, aufgeblasenen Beamtenapparat leistet, der von 600.000 gewählten Volksvertretern geleitet wird. Das bedeutet, dass rund 1 % der französischen Bevölkerung ein öffentliches Amt bekleidet, mit entsprechenden Vergütungen, prunkvollen Empfängen, teuren Büfetts und Repräsentationskosten. In keinem anderen Land gibt es so viele Abgeordnete, in keinem Land sind die Repräsentationskosten höher.

Gegen all das richten sich die aktuellen Proteste und nun steht Frankreich vor der spannenden Frage, ob es die Regierung im Dialog mit der Zivilgesellschaft schaffen wird, sich selbst „von oben“ zu reformieren. Eine solche „Revolution“ wäre eine interessante Entwicklung und, um es mit Angela Merkel zu sagen, eine solche „Revolution von oben“ wäre für Macron „alternativlos“. Denn sollte diese „Revolution von oben“ nicht gelingen, dann lautet die Alternative Bürgerkrieg und es gibt heute schon zahlreiche „Gelbwesten“, die lauthals davon träumen, mit dem auf einer Lanze aufgespießten Kopf des Präsidenten durch die Straßen von Paris zu paradieren.

Es ist zwar offenkundig, dass Macron mit der gestern gestarteten „großen nationalen Debatte“ in erster Linie etwas Zeit gewinnen und dabei die in sich sehr zerrissene Bewegung der „Gelbwesten“ spalten will. Und dennoch wird er diesen Dialog ernsthaft führen müssen, denn alles andere als ein echter Fortschritt wird die Revolte in Frankreich in noch gefährlichere Bahnen lenken.

Ab sofort führen die französische Regierung, die „Gelbwesten“ und die restliche Bevölkerung Frankreichs einen gemeinsamen Kampf: denjenigen für ein modernes, gerechtes Frankreich. Und alle zusammen sind die zum Erfolg verdammt, wollen sie denn verhindern, dass Frankreich auf lange Jahre hinaus in die 2. Liga der europäischen Staaten absteigt. Und das wäre eine Schande für das schönste Land der Welt…

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