Zeitenwende à la française…

In Frankreich hat die soziale Zeitenwende begonnen, erneut waren deutlich mehr als eine Million Menschen im ganzen Land auf der Straße, und das Armdrücken der Regierung gegen die eigene Bevölkerung geht weiter. Und Präsident Macron schweigt.

Die Unterstützung für den sozialen Protest in Frankreich ist sogar grenzüberschreitend. Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY 2.0

(KL) – Bereits am frühen Morgen starteten gestern die Demonstrationen und Streiks in ganz Frankreich, unter der Mittelmeersonne in Marseille und Nizza, im heftigen Regen in Zentral-Frankreich, in der windigen Kälte in Straßburg, unter grauen Wolken in Nantes, überall ging Frankreich auf die Straße, um gegen die geplante Rentenreform zu demonstrieren, die ebenso unausgegoren wie ungerecht ist, insbesondere, was die Rente für Frauen betrifft. Gegen Mittag verkündete die Gewerkschaft CGT, dass alle Treibstoffdepots in Frankreich blockiert seien. Bei der Staatsbahn SNCF hatte der Streik bereits am Vorabend begonnen und Millionen Menschen protestierten gestern wieder gegen die geplante Rentenreform. Aber nicht nur gegen diese Reform. Die Proteste richten sich mehr und mehr gegen den Präsidenten Emmanuel Macron, dessen Verhalten in dieser innenpolitischen Krise bei vielen Franzosen nur noch Kopfschütteln auslöst. Statt sich seinem Volk zu stellen, tourt er durch Afrika, wo heftige Demonstrationen seinen Besuch begleiten, denn in Afrika ist Macron inzwischen ähnlich beliebt wie in Frankreich. Doch wie geht es nun weiter, angesichts einer nicht schwächer, sondern ansteigenden Mobilisierung?

Während ihr Boss schweigt, schickt die Regierung ihre dritte oder gar vierte Garde ihrer Minister an die Medienfront, wo diese stammelnd vor den Kameras versuchen, die „Vorzüge“ dieser Reform zu erklären, dabei aber alles nur immer schlimmer machen. Der einzige Weg aus dieser sozialen Krise ist die Rücknahme dieser Reform, um mit den Sozialpartnern und der Gesellschaft in einen Dialog zu treten, wie und wann eine sozialverträgliche Rentenreform organisiert werden kann. Doch das autokratische Gehabe dieser Regierung, die bereits zu Beginn der Debatten deren Resultat als „nicht verhandelbar“ verkündet hatte, stürzt das Land ins Chaos. Dass die Proteste angesichts dieses undemokratischen Vorgehens und des präsidialen Schweigens schärfer werden, ist verständlich, die Verantwortung für diese Eskalation trägt die Regierung.

Dessen ungeachtet versuchen einige Regierungsmitglieder weiterhin, die Streikenden als „die Straße“ zu diffamieren, doch sie täuschen sich. Hier protestieren keine Chaoten und Unruhestifter, sondern das französische Volk. Alle Berufsgruppen sind vertreten, alle Gewerkschaften arbeiten zusammen und organisieren auch die Ordnungsdienste für die Demonstrationen, die es schaffen, dass Demonstrationen friedlich verlaufen. Bis auf die Hauptstadt Paris, wo einige Black Blocks versuchten, sich in die Demonstration zu schieben, bis auf einige Reibereien am Morgen in Nantes, bis auf einige kleinere Zwischenfälle hier und dort, verliefen die Demonstrationen, wie alle Demonstrationen seit dem 19. Januar, absolut friedlich und hatten teilweise Happening-Charakter. Genau das versteht die Regierung nicht – diese Demonstranten sind das wirkliche Frankreich, Menschen, die ihr Land und ihre Republik lieben, die gar nicht auf die Idee kommen, Dinge zu zerstören oder sich mit der Polizei prügeln zu wollen, und die nicht länger hinnehmen, dass ihre republikanischen Werte von einer als unfähig erachteten Regierung zerstört werden. Frankreich gerät in einen Strudel, den die Regierung nicht mehr mit den üblichen Methoden aufhalten kann. Frankreich kocht.

Es könnte sein, dass man in den plüschigen Salons der Pariser Macht einen Point-of-no-Return überschritten hat, denn inzwischen mobilisieren sich auch Bevölkerungsschichten, die normalerweise nicht demonstrieren gehen. Der Zeitpunkt, zu dem die Regierung hätte reagieren können, ist längst überschritten, und ab sofort heißt es in Frankreich „das Volk gegen die Regierung“. Doch keine Regierung kann sich dauerhaft gegen die eigene Bevölkerung durchsetzen, schon gar nicht in Frankreich mit seiner revolutionären Tradition.

Die gestrige, beeindruckende Rekord-Mobilisierung, die auch die übliche, gerradezu lächerliche Minimierung der Teilnehmerzahlen seitens der Behörden nicht schmälern kann, ist nicht etwa der Schlußakkord einer Protestbewegung, sondern könnte tatsächlich der Anfang vom Ende der Macronie sein.

In den kommenden Tagen findet Demonstration auf Demonstration statt, es wird weiterhin Streiks geben und die Franzosen sind nicht mehr bereit, sich von demjenigen, der immer öfter in den Demonstrationen zum Rücktritt aufgefordert wird, die Butter vom Brot stehlen zu lassen. Die Auseinandersetzung wird immer härter werden, es wird leider zu immer mehr Ausschreitungen kommen und Emmanuel Macron kann sein Mandat eigentlich nur dann noch retten, wenn er sofort diese Reform zurückzieht und idealerweise dazu auch seinen Posten zur Verfügung stellt. So oder so – die Lage ist hochexplosiv und das Schweigen des Präsidenten ist die längst brennende Lunte am sozialen Pulverfass.

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