Auf die Reihenfolge kommt es an: Frauen, Leben, Freiheit

Der diesjährige Sacharow-Preis für Menschenrechte des Europa-Parlaments ging an die junge iranische Kurdin Jina Mahsa Amini - posthum, denn sie starb im Polizeigewahrsam in Teheran. Ihr Tod löste eine Welle von Demonstrationen in vielen Orten der Islamischen Republik aus.

Zwei Frauen aus dem Iran, die für Tausende stehen: Afsoon Najafi, Schwester einer getöteten Demonstrantin, und Mersedeh Shahinkar, die bei Auseinandersetzung mit der Polizei ein Augenlicht verlor, bei der Pressekonferenz zur Vergabe des Sacharow-Preises des Europaparlaments. Foto: © Michael Magercord

(Michael Magercord) – Diesen Preis aus Straßburg möchte eigentlich niemand wirklich nötig haben wollen: den Sacharow-Preis für Menschenrechte des Europäischen Parlaments. Und trotzdem wird er alljährlich im weiten Rund des Plenarsaals feierlich vergeben. Träger sind vorbildliche Streiter für Bürger- und Menschenrechte – doch meist sitzen seine Empfänger im Gefängnis, oder wie in diesem Jahr schlimmer noch: Der Preis des Jahres 2023 wurde posthum an eine Tote verliehen.

Eigentlich sollte dieser Preis eine Ermutigung für die Preisträger darstellen. Schaut man sich an, wer ihn in letzten Jahren bekam, könnte aber auch das Gegenteil der Fall sein. Da war etwa 2017 die Opposition Venezuelas, die sich gegen den linksautokratischen Machthaber Maduro stellt. Sie verlor schon kurz darauf die Wahlen und ist heute nahezu bedeutungslos.

Dann war da der uigurische Professor und Menschen- und Volkrechtsaktivist Ilham Tothi aus der westchinesischen Provinz Xinjiang, oder wie sie die moslemische Mehrheit nannte: Ost-Turkestan. Der Preisträger befand sich in einem Straflager und sitzt dort nach wie vor eine lebenslange Haftstrafe ab. Seine Tochter, die im Exil lebt, nahm stellvertretend den Preis entgegen. Sein Volk, die Uiguren, wurden seither weiter unterdrückt und sind nun nach etlichen Einwanderungwellen chinesischer Neueinwohner eine Minderheit im eigenen Land geworden. Für Hoffnungen auf Verbesserung der Lage gibt es keinerlei Anlass.

Den Preisträgern von 2020 ergeht es auch nicht gut: die Opposition in Weißrussland. Im Jahr darauf wurde der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny geehrt. Noch 2018 konnte er seine Klage gegen den russischen Staat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg persönlich begründen. Als er den Straßburger Preis erhielt, saß auch er bereits im Gefängnis. Nawalny war zuvor nach einem Giftanschlag länger in Berlin zur Behandlung und Genesung, kehrte nach Moskau zurück und wurde noch auf dem Flughafen verhaftet. Ein Jahr später war es erneut die Tochter, die den Preis für ihren Vater entgegennahm. Auch sie und der Anwalt des Preisträgers konnten in der anschließenden Presekonferenz die Frage nicht beantworten, wie sich der Oppositionelle seine Rückkehr nach Russland eigentlich vorgestellt hatte: Wäre es nicht sinnvoller gewesen, im Ausland zu verbleiben und von dort einer Exilregierung vorzustehen? Heute sitzt der Sacharowpreisträger jedenfalls in einem Straflager und sein Gesundheitszustand soll sehr labil sein.

Letztes Jahr wurde der ukranische Präsident Selenski ausgezeichnet. Allerdings stellvertretend für den eigentlichen Preisträger, das „mutige ukrainische Volk“. Dieses Volk, hieß es im Plenarsaal vollmundig, verteidige auch „unsere Werte“. „We stand with you“, so die Präsidentin des Parlaments im weiten Rund, „as long and what ever it takes“. Wie es um die Mutigen an der Front heute bestellt ist, können wir jeden Tag in Nachrichten hautnah mitverfolgen. Damals nahmen drei Vertreter den Preis symbolisch in Empfang. In der anschließenden Pressekonferenz bemängelten sie die allzu große Zögerlichkeit der westlichen Staaten bei den Waffenlieferungen: Genug, um gerade nicht zu verlieren, zu wenig aber, um gewinnen zu können. Ja, aber genau so wird es in Anbetracht der nuklearen Bedrohung auch bleiben, hätte man ihnen eigentlich schon damals ehrlich zurufen müssen, da im Westen niemand wirklich Kriegspartei werden will.

Und nun also geht der Sacharow-Preis an die verstorbene junge Kurdin Jina Masha Amini und somit an die iranische Bewegung „Frauen, Leben, Freiheit“. Ob man die Iranerinnen zum Erhalt dieser Auszeichnung beglückwünschen sollte? Schnell werden im Parlament und anderswo im Westen nun die gemeinsamen Werte betont, für die die Opposition im Iran auf die Straße gegangen sei. Aber Achtung: Sind es nicht die theokratischen Machthaber, die für das, was man als „Werte“ bezeichnet, auf jene jungen Menschen schießen lassen, die von deren Moralvorstellungen genug haben? Ist es nicht eher eine Bewegung, die wie jene während der europäischen Emanzipation um die Wende zum 20. Jahrhundert sich gegen Werte richtete, nämlich denen eines spießbürgerlichen Militarismus?

Achtung vor Vereinnahmung – egal von welcher Seite – ist ja immer geboten, aber auch vor allzu großen Illusionen. Vom „arabischen Frühling“ in der nahöstlichen Welt ist über zehn Jahre danach nichts mehr übrig, und manche ihrer Gesellschaften sind gar konservativer geworden als sie uns zuvor erschienen. Nun liegen die Dinge im Iran sicher etwas anders, da sich der Unmut gegen ein stockkonservatives Regime richtet und sich die Aufständigen – anders als in vielen arabischen Staaten – nicht auf die religiöse Komponente stützen. Wie schlagkräftig die Opposition in dem islamischen Land dann allerdings auf Dauer sein kann, müsste sich erst noch erweisen.

Es gilt also abzuwarten, wie es weiter geht und welche Antriebskräfte schließlich für eine Veränderung sorgen könnten. Die Frage, ob dieser Preis für den Fortgang der Bestrebungen der Preisträger ein schlechtes Omen darstellt, wird sich dann hoffentlich nicht mehr stellen.

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