Corona – geht‘s noch? Europa im Wellental (1. Teil)

Bleibt die zweite Welle eine Springflut oder wird sie für anhaltendes Hochwasser sorgen? Egal, es ist höchste Zeit, wieder Worte zu finden. Wird nun alles anders? Nur, wenn man darüber redet. Aber wie? In dem man Fragen stellt – und die dümmsten finden Sie in loser Folge hier.

Güldene Sterne verloren im Raum (und nicht auf blau hübsch angeordnet...). Foto: HFCM Communicatie / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(Michael Magercord) – Wozu, liebe Europäer, brauchen wir die EU? Zugegeben, das hatten wir uns an dieser Stelle vor einiger Zeit schon einmal gefragt. Aber die Frage hinter der Frage handelt ja auch gar nicht von der Europäischen Union. Es ging vielmehr darum, was Menschengemeinschaften zu einer Gemeinschaft aus Menschen macht. Es war nur die EU und der von ihr jetzt eingerichtete Corona-Wiederaufbaufond, an dem aufgezeigt wurde, wozu ein Sich-Zusammentun letztlich dienen soll und worin sich das Gemeinschaftsgefühl schließlich offenbart: in den vom gemeinschaftlichen Geldsegen aufgehäuften gemeinsamen Schulden nämlich.

War das eigentlich gemein – im Sinne von fies – über diese große Kraftanstrengung der Europäischen Union zu reden, als erzeuge sie nichts als Schulden? Nein, im Gegenteil, für diese Aussage hätte sich deutsche Michel, unser europäischer Musterschüler, sogar eine Fleißbiene erster Klasse verdienen können. Denn legt er nicht die höchste Summe in den gemeinsamen Topf? Ja, er ist der größte Geldgeber und damit Schuldenproduzent! Und ja, all dies soll dem Wachstum und damit dem Wohlstand dienen, so wie es für die EU im Lissabonner Grundlagenvertrag von 2007 festgeschrieben ist. Und profitiert der Michel nicht am meisten, wenn die bestehenden und vielleicht auch schon ohne Corona überkommenen Strukturen noch eine Weile über die Zeit gerettet werden? Schuldner und Gläubiger werden über diesen Zeitraum innig verbunden bleiben und nichts am System ändern können oder wollen. Ist also sein Geld, das er nun in den Topf einlegt, sowieso nirgendwo besser angelegt, als in die zukünftigen Schulden?

Das ist noch nicht die dümmliche Frage, die uns Corona stellen wird, wenn es um Europa geht. Außerdem ist diese Frage seit dem letzten Mal geklärt – oder etwa nicht? Doch doch, denn Schulden, die es ja im Grunde gar nicht gibt, die ja nichts weiter als eine fixe Idee sind, sind genau deshalb der Stoff, aus dem die Alpträume von wechselseitigen Abhängigkeiten gemacht sind. Dass sich nämlich diese Schuldenbande nicht so mir nichts, dir nichts zerreißen oder sich in Wohlgefallen auflösen, in jenes Nichts also, in dem sie gründen, dafür sorgen seit jeher Institutionen – erst durch Schuldentürme und nun mit dem ausgefeilten Instrumentarium von Verfolgungsbehörden.

Autorenschweiß, Leserfleiß – Die Fleißbiene, die letztes Mal dem Michel zugestanden war, gebührte eigentlich dem Leser, hatte der doch bei seiner Lektüre wohl schmunzeln müssen über die geistigen Windungen des Autors, Schulden zur fixen Idee zu machen: Mach’ mal selber Schulden und dann wirst du fixer, als dir lieb ist, sehen, wie fix Schulden sind! Ja, so musste dieser Autor lernen, dass Ideen Institutionen hervorbringen und jede Idee eine Anstalt gebiert, die uns schon beibiegen wird, wie real fixe Ideen sind und unser Leben letztlich bestimmen: Institutionen sind es, die uns letztlich Mores lehren – nicht umsonst hieß ja auch schon unsere Schule „Lehranstalt“. Um nun auch ohne Frontalunterricht klüger zu werden, stelle ich mich jetzt wieder ganz dumm und damit diese dümmliche Frage: Was wird aus fixen Ideen, wenn sie erst einmal zur Realität geworden sind?

Antwort: die EU. Ja, auch unserer Europäischen Union lag einstmals eine fixe, wertegeschwängerte und mit vielen hehren Attributen bedachte Idee zugrunde, die nun zur Institution geworden ist und unser Leben nicht unerheblich mitbestimmt. Doch wie? Vielleicht lohnt ein kleiner Ausflug in die Wirklichkeit dieser Institution mit zwei Stationen: eine in der Peripherie der EU gelegen, die andere ihrem Zentrum – wobei gar nicht so klar ist, wo sich die eine und wo sich das andere tatsächlich befinden. Aber urteilen Sie doch selbst: Unser Ausflug führt uns auf eine einsame Alm in den Hochalpen und in den Pressekonferenzsaal im EU-Parlament von Straßburg.

In den Bergen Savoyens, auf über 2.000 Höhenmeter, etwas abseits der großen Reiserouten, über einem spärlich bewohnten Hochtal, liegt die Käsealm von Madame R. „Alm“ ist hier allerdings ein zu großen Wort: eine einfache Behausung, die Stallungen daran, im Anbau die Käserei. Almwirtschaft in der zweiten und wohl auch letzten Generation. Harte Arbeit, um vier Uhr morgens die Kühe und Ziegen melken, Käsemachen, Nachmittags wieder melken. Früher, als ihr Mann noch lebte, hatten sie eine kleine Herde, die sich tagsüber auf ihrem steilen Berghang satt fraß, jetzt sind es noch sieben Ziegen und fünf Kühe. Madame R. stellt eine einzigartige Spezialität her: einen Tome aus Ziegen- und Kuhmilch.

Registriert, existiert – Was hat das mit der EU zu tun? Ganz einfach: Jedes Tier ist in Brüssel registriert, hat einen Berichtsbogen, ein tierärztliches Attest. Und dann die Auflagen in der Käserei: Gott-sei-Dank kämen die Kontrolleure nur bis unten ins Tal, wo sich der Hof und damit das Winterquartier befindet. Hier hinauf – ein immerhin 700 Höhenmeter steiler Anstieg und dann auch noch zu Fuß – habe es keiner dieser Menschen geschafft. Aber es gibt ja noch den Postweg und Madame R. stöhnt: Früher war das Leben einfacher, heute komme jeden Tag irgendein schrecklicher Brief mit irrsinnigen bürokratischen Ansinnen, das dann auch meist noch mit erheblichen Kosten verbunden ist. Ob Aufsichtsbehörden, Kommunalverwaltung, Versicherungen: „Alles ist zu einem unerbittlichen System zusammengewachsen“, sagt die 64-Jährige, „daraus gibt es kein Entrinnen mehr.“

Und jetzt kommen auch noch die echten Raubtiere. Wölfe sind in ihr Bergmassiv eingezogen. Sie stehen unter dem Schutz der EU-Habitat-Richtlinie, worin im Anhang IV der Wolf als besonders streng geschützt gilt. Drei Ziegen haben die Raubtiere gerissen, ohne sie zu fressen. Die Ziegen wird sie aus EU-Mitteln ersetzt bekommen, nicht aber die entgangene Milch. Schnell mal absteigen und neue Tiere kaufen – das geht nicht. Ergebnis: 30 Prozent Verlust. Wenn das noch einmal geschehen sollte, will Madame R. Schluss machen mit dem Almbetrieb. Unter den heutigen Bedingungen lohne es nur für große Betriebe mit 200 Kühen und großen Ziegenherden, nur die können sich teure Schutzmaßnahmen leisten und verfügen darüber hinaus über die notwendigen juristischen Kapazitäten und Kompetenzen, um dafür Mittel aus dem EU-Fond zum sogenannten „Herdenschutz“ zu beantragen.

Konsequenz der Politik aus Brüssel in den fernen Hochalpen: Die Großen werden bleiben, die Kleinen aufhören. Und die steilen Bergwiesen, wo bislang die Weidetiere dafür sorgen, das Gras niedrig zu halten, könnten zum Lawinenhang werden – oder noch besser: zur Skipiste, will doch die Kommunalverwaltung endlich Zugriff auf den Berghang bekommen, um das Skigebiet, das sich bereits auf der anderen Seite des Grades befindet, auszuweiten. Und zumindest bis in die jüngste Vergangenheit hinein gab es für derartige Projekte noch EU-Mittel aus dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung. Versuchen kann man es ja mal, und wenn die Gemeinde für Skipisten keine Liftanlagen mehr gefördert kriegt, deklariert man sie – ganz im Sog des Megatrends – eben als Abfahrtsstrecke für Mountainbikes.

Höhen und Tiefen – Zurück ins Flachland, Station Nummer zwei – oder doch Nummer eins? Mitten im weiten Rheintal, am Rande von Straßburg steht also das Europaparlament, worin alle Entscheidungen gefällt werden, die anderswo ihre Auswirkungen entfalten. Sicher, man könnte jetzt noch eine Zwischenstation einschieben, etwa in eine ministerielle Agrarverwaltung eines deutschen Bundeslandes in einen deutschen Bundeslandes, wo die Mitarbeiter ja ebenfalls über die vielen neuen Verordnungen stöhnen, deren Anzahl merklich angestiegen sei, seit in dem Lissabonner Vertrag die Mitspracherechte des Europaparlamentes bei der Inkraftsetzung neuer Verordnungen erheblich ausgeweitet wurden. Aber das sparen wir uns, wir begeben uns direkt in den Keller des Straßburger Parlamentsgebäudes. Im Stockwerk –1 befindet sich nämlich der Pressekonferenzsaal, worin die Abgeordneten der EU-Bürger ihre Absichten darlegen und sich von den Pressevertretern der EU-Bürger dazu befragen lassen. Wir könnten es nun an dieser Stelle kurz machen, weil ja derzeit dort unten im Keller ebenso wenig passiert, wie oben unter der Holzkuppel des Plenarsaals. Corona-entschuldigt tagen ja seit März die Abgeordneten in Brüssel. Es bleibt uns also nur der Rückblick auf all die Pressekonferenzen, die dort unten zuvor abgehalten wurden, all die Erklärungen und Bekundungen, all die „jetzt muss“ und all die „so nicht“.

Und natürlich all die Vollzugsbekundigungen stolzer Abgeordneter von gewonnenen Abstimmungen um neuste Verordnungen. „Verordnungen“ heißen ja bekanntlich die Gesetze, die das EU-Parlament verabschiedet. Der Weg dahin ist lang und führt über Ausschüsse und Fachgremien und Fraktionssitzungen und Kaffeetrinken mit Lobbyisten und Beratungen mit parlamentarischen Geschäftsführern und Abstimmungsrunden mit Kommissionsbeamten und und und – wer jetzt wirklich noch wissen will wie’s tatsächlich läuft, dem sei die deutsch-belgisch-französische Fernsehserie „Parlament“ ans Herz gelegt (*). Und wen es dann noch wundert, warum trotzdem so viele Verordnungen über alles Mögliche erlassen werden, der sei an die schiere Masse erinnert: 705 Abgeordnete, jeder mit Ambitionen und einem Lieblingsthema, und selbst wenn nicht alle unbedingt bienenfleißig sind, finden sich immer wieder Kollegen, mit denen sich wirkungsvoll über die Fraktionsgrenzen hinweg agieren lässt – und schon ist die obig nur skizzenhaft aufgelistete Gremiendynamik in Gang gesetzt.

Nur die Wurst hat zwei – Am Ende dieser Dynamik steht schließlich eine Pressekonferenz im Straßburger Keller – „stand“, muss man ja nun erst einmal sagen. Rückblickend schrieb sich eine davon ganz besonders in meine Erinnerung ein: als nämlich im März 2019 acht Abgeordnete aus fast allen Fraktionen das eben im Plenum beschlossene Ende der sommerzeitlichen Uhrumstellung präsentierten. Jede und jeder durfte nochmal kundtun, wie stolzerfüllt man von dem Abstimmungserfolg sei und dem Willen der Bürger Rechnung getragen hätte. Die Erinnerung daran ist nicht nur deshalb so nachhaltig, weil die Zeitumstellung am letzten Wochenende wieder einmal vollzogen wurde und auch nicht absehbar ist, wann endgültig Schluss damit sein wird, sondern auch, weil mir dabei dieser Gedanke dämmerte: Wäre das Ende der gemeinsamen Sommerzeit dann nicht auch das erste Beispiel dafür, wie eine einstige europaweite Regelung wieder zurückgenommen werden kann und in die Verantwortung der Staaten zurückverlagert wird? Und ich frage mich seither, ob sich die Parlamentarier aller Länder über diesen Aspekt ihres Abstimmungsverhaltens überhaupt im Klaren sind?

… nun ja, ich muss gestehen, ich hatte damals bei Pressekonferenz keine Frage zu diesem gerade revolutionären Gedanken gestellt, womit letztlich nur eines gezeigt wäre: Dieser Saal im Keller des Europaparlamentes zu Straßburg ist der Ort, worin zuallererst all die nie gestellten Fragen an die EU und ihre Institutionen durch den Raum wabern; all die Fragen nämlich, die gerade dann nicht aufgebracht wurden, als der richtige Zeitpunkt für sie gewesen wäre. Aber auch in Pressesälen geht es zu wie im richtigen Leben: die wirklich wichtigen Fragen fallen uns immer erst viel zu spät ein. Bleiben nur die dummen Fragen übrig, aber für die ist dann meist keine Zeit.

Doch dann, nur wenige Monate später, bot sich endlich die Gelegenheit: die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, frisch ins Amt gehoben, fand sich im Keller zu Straßburg ein. An sie sollte sich nun diese Frage aller Fragen richten: Ob nämlich die europäische Exekutive unter ihrer Führung beabsichtige, die Anzahl der Verordnungen zu begrenzen, was ja vielleicht auch im Lichte des Brexits und des allenthalben in Europa weitverbreiteten Gefühls durch immer mehr Verordnungen aus Brüssel fremdbestimmt zu werden, wichtig wäre, und wenn also es beabsichtigt sei, die Schlagzahl der neu in Kraft gesetzten Verordnungen zu senken, wo sieht die neue Kommissionspräsidentin jene Felder, auf denen man die Regelungen den Staaten, Regionen oder auch einzelnen Kommunen wieder überlassen könnte?

(*) Ja, das war der Ausflug in die Peripherie und das Zentrum Europas, der mit einer viel zu langen Frage endet. Schon sehr bald werden wir an dieser Stelle im 2. Teil dieser EU-Ideenkunde sehen, wohin diese Fragerei noch führen mag. Wer nicht so lange auf Europa warten kann, dem sei nun dieser Link zur EU-Verordnungserklärserie „Parlament“ empfohlen, die einen Blick in die Wurstkammer der Europäischen Union erlaubt. Die Wurst, um die es dabei geht, hat übrigens nichts mit Agrar- oder Verbraucherschutzpolitik zu tun, jedenfalls nicht direkt oder ausschließlich, sondern bezieht sich auf ein Zitat des Reichskanzlers Otto von Bismarck: „Mit Gesetzen verhält es sich wie mit Würsten – man ist besser nicht dabei, wenn sie gemacht werden“ – was nun allerdings nicht für diese brillante Fernsehserie gilt. Deshalb und zur Belohnung dafür, dass Sie, verehrte Leser, tatsächlich schon einmal bis hierher durchgehalten haben, jetzt HIER klicken.

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