Corona – und nun? Zuhause ist, wohin das Virus führt (Teil 1)

Die zweite Welle schickt uns in die Verbannung: nach Hause. Doch wo sind wir überhaupt noch Zuhause? Es wird nun wirklich Zeit, wieder Worte zu finden. Aber wie? In dem man Fragen stellt – und die dümmsten finden Sie in loser Folge hier.

Welche Farbe hat das Virus? Wärmebildkamera zeigt deutliche Hitzeausschläge auf der Kruste. Foto: HFCM Communicatie / CC-BY-SA 4.0int

(Michael Magercord) – Eine große Frage: Was ist ein Zuhause? Es ist aber leider keine dumme Frage, deshalb wird sie den Fragesteller erst einmal nicht klüger machen, sondern ihn noch mehr verwirren. Und klar: verwirrt sind wir sowieso schon – und zwar gerade, weil wir ständig Zuhause sind. Aber wer ohnehin schon verrückt ist, kann sich ja auch einmal an einer klugen Frage versuchen. Im Umkehrschluss könnten dabei sogar Antworten herauskommen, als hätte da ein Kluger eine dumme Frage gestellt.

Und der klare Beweis für die Verrücktheit des Fragestellers wurde bereits letztes Mal, als er Corona nahekommen wollte, geliefert. Da stellte er nämlich fest, dass wir letztlich doch alle bloß latente Kleinstaatler sind. Da dachten wir noch, wir Europäer, Bürger dieser Welt, dächten immer gleich global, also quasi für alle mit. Und träumen auch: Denn unsere fixen Ideen vermögen sich in idealistischen Höhen hinauf schwingen und weltumspannende Wohltaten ersinnen – ja, so sehr vertrauen wir unseren fixen Ideen, dass sie sogar gestandene Politiker selbst bei Pressekonferenzen im Europaparlament zum Träumen verführen. „Man ist kein Realist, wenn man nicht träumt“, sagen solche Politiker dann vor versammelter Journallie und fügen hinzu: „auch Europa war zunächst ein bloßer Traum.“

Doch ach, wir hatten uns ja schon letztes Mal vor Augen geführt, was schließlich dabei herauskommt, wenn Politikerträume zur Institution werden: All die EU-Verordnungen, die Fürsorge für jedes kleinste Anliegen des ach so betreuungsbedürftigen Bürgers und das gleichzeitige Abducken der politischen Mehrheitsakteure vor den großen Verwerfungen, wie etwa vor der immer irrwitziger werdenden Vermögensverteilung und der lächerlichen Besteuerung dieses Irrwitzes. Dazu kommt noch diese hilflose Fixierung auf ein selbstzerstörerisches Wachstum als Problemlösungsformel für alles, von Sozialmisere bis Ökologie – kurz: die Hoffnung auf zündende Ideen für wirkliche Veränderungen am realen Irrwitz, die von Oben, von einer bestehenden Großinstitution ausgingen, muss man wohl begraben.

Aber natürlich nur, wenn man derartige Hoffnungen jemals gehegt hätte. Das haben wir natürlich nie getan. Wir wissen doch, wie solche vermeintlichen Beglückungen enden. Schlecht nämlich. Und das nicht nur, weil es nun einmal keine fixen Ideen gibt, die sich auf die Realität einfach so übertragen ließen – wer noch den real existierenden Sozialismus erleben durfte, weiß, was ich meine. Doch dieses Mal würde es vor allem deshalb scheitern, weil wir, die latenten Kleinstaatler, noch gar nicht zu echten Veränderungen bereit wären. Wir sind es, deren kleiner Geist sich doch zuallererst einstellen müsste auf irgendeine Zeit danach.

Bescheidenheit ist eine Zier – Aber trotzdem und ganz ohne falsche Bescheidenheit: Die da Oben sind noch rückständiger als wir, sie sind erst recht nicht auf eine neue Zeit vorbereitet. Allerdings ist es auch gar nicht ihre Aufgabe, sich großmütig was Neues auszudenken und dann zur Großtat zu schreiten. Nein, sie müssen hier und jetzt handeln, selbst wenn das Hier und Jetzt der reine Irrwitz ist. Dazu müssen sie ihre Gedanken sammeln, sich am Bestehenden orientieren und sich klar und deutlich ausdrücken. Klare Aussagen wollen wir jetzt von ihnen hören, verwirrt sind wir doch selbst genug. Wer letztlich wirklich verwirrt ist, wir oder die, wird sich leider erst im Nachhinein feststellen lassen, aber trösten immerhin können sich die, die sich im Hier und Jetzt zu den Verungewisserten zählen, mit Marcel Proust. Für den akribischen Forscher der Erinnerungsrückschau galt nämlich ausgerechnet die Klarheit der Gedanken als Maß der Verwirrtheit des Geistes.

Und als besonders klar im Kopf erscheinen ja vor allem immer jene, die es tatsächlich geschafft haben, eine weltumspannende Gemeinschaft gleichgesinnt Handelnder zu bilden. Jene nämlich, die ohne sich einigen zu müssen schon einig darüber sind, was sie erreichen wollen. Die sich – jeweils ihr eigenes Ziel vor Augen – schnell auf Standards ihres Austausches verständigen können und dann gemeinsam drauflos handeln. All die Freihändler und globalen Finanzjongleure nämlich, die so klar nach vorne denken, dass sie ein verzwicktes und verzweigtes, aber gerade dadurch so wirkmächtiges System erschaffen haben, dass man es ohne Verwerfungen zu riskieren, kaum mehr abschaffen kann.

Zumindest, wenn man denkt wie Politiker und andere Macher allgemein hin denken. Aus dem Korsett von gegenseitigen Abhängigkeiten können sie sich nicht lösen, was sie auch gar nicht dürften, wenn sie verantwortlich handeln sollen – verantwortlich nämlich gegenüber dem Bestehenden. So sorgen sie nun konsequenterweise dafür, dass erst einmal viel Geld als Coronahilfen in die bestehenden Strukturen gepumpt wird, wodurch es letztlich wieder bei den Freihändlern und Finanzjongleuren enden wird. Das geschieht natürlich aus bester Absicht, muss doch die Welt in der Lage gehalten werden, sofort wieder in den alten Trott zu verfallen, sobald der Stillstand beendet ist. Für Weiteres sind die Macher nun mal nicht zuständig – sondern wir, die latenten Kleinstaatler.

Die sitzen, ausgeliefert einem weltumspannenden Ereignis, erst einmal in ihrer kleinen Welt fest. Sie ahnen wohl schon, dass sie, die Stubenhocker, schließlich die Töpfe wieder füllen müssen, die jetzt für die Wohltaten zur Aufrechterhaltung des realen Irrwitzes geleert werden. Und sie mögen bei Herrn Proust Trost finden, denn so wissen sie wenigstens schon heute, dass auch nach Corona nichts anders wird. Die Retro-Träume der Macher im Hier und Jetzt sind einfach von zu großer Klarheit, als dass sie den ihnen eigenen Irrwitz erkennen könnten.

Weiter kommt man ohne – Das war’s dann aber auch. Wie’s denn anders werden könnte? Klimakrise, globale Ungleichheit, und zwischendrin auch noch Corona – wenn wir Kleinstaatler aufrichtig sind, wissen wir doch schon lange, dass es so nicht weitergehen kann. Doch wenn wir ehrlich mit uns ins Gericht gingen, wüssten wir, dass wir auch nicht wissen, wie es werden sollte: Ein bisschen lokale Wirtschaft, könnte das schon ausreichen? Oder doch irgendein diffuses neues „Wir“, vielleicht ein Kollektiv der neuen Form mitverantwortlicher Mitbestimmung? Oder lieber was Praktisches für jeden Einzelnen, wie etwa das Grundeinkommen für alle, egal wozu es jemand nutzte? Schön und gut das alles, aber wären wir dafür schon bereit?

Und wäre unsere Wachstumsgesellschaft dazu bereit? Nichts gegen die Idee eines „grünen Wachstums“ – aber zur ungeschminkten Wahrheit gehört die Einsicht, dass eine wirkliche Veränderung immer auch Verzicht bedeutete. Der Gewinn, der sich zweifellos einstellen würde, wäre eher ideeller Natur: Einfachheit der Genüsse, gelassene Bescheidenheit, Zufriedenheit mit dem Erreichten – entsprechend nähme jede nachhaltige Veränderung ihren Ausgang zuallererst im ideellen Bereich, oder modern ausgedrückt: im Denken.

Alles hängt also vom Denken ab. Ist das eine gute oder schlechte Nachricht? Umdenken, neudenken, klardenken – ich weiß nicht einmal, ob es diese Verben überhaupt gibt, und schon gar nicht, ob sie überhaupt einen Sinn machten. Bleibt der Mensch nicht erst einmal ein Mensch und denkt wie der seit jeher gedacht hat? Doch selbst die Unveränderlichkeit des Denkvermögens hätte die Menschen auch bisher weder vor Verwirrung geschützt noch vor Veränderungen bewahrt. Und die Veränderungen kamen unabhängig davon, ob die Menschen dafür bereit waren oder nicht. Es könnte aber einen Unterschied machen, wie eine Gesellschaft mit ihnen umgeht, nämlich ob der Abstieg vom hohen Ross ihrer Gewissheiten in Würde vonstattenginge oder sie herunter purzeln und sich dabei gegenseitig noch ganz viel Aua zufügen werden…

Auch wenn’s weh tut: Der Moment für die kluge Frage, die den Verwirrten wie eine dumme erscheint, ist noch nicht gekommen. Zunächst gilt es zu klären, warum wir eigentlich so verwirrt sind, und zwar so sehr, dass uns die allzu klaren Gedanken nach wie vor beherrschen, und uns, die Kleinstaatler im Geiste, davon abhalten, gelassener, genusssicherer und gnädiger zu sein, wenn es um die Zukunft geht. Da hilft nur ein Blick zurück, der uns nach vorne bringen soll – schon bald, im zweiten Teil dieser Betrachtung.

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Vielleicht, liebe Leser, genügt Ihnen nach der Lektüre dieses ersten Teils schon der Grad der Verwirrtheit, sodass es Sie schon jetzt zur Klarheit drängt. Dann können Sie bei Jean-Luc Nancy, dem Straßburger Philosophen, der uns im zweiten Teil dieser Betrachtung auf der Rückreise in die Denkantike begleiten wird, reinhören – und zwar HIER!

 

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