Corona – und nun? Zuhause ist, wohin das Virus führt (Teil 2)

Die zweite Welle schickt uns in die Verbannung: nach Hause. Doch wo sind wir überhaupt noch Zuhause? Es wird nun wirklich Zeit, wieder Worte zu finden. Aber wie? In dem man Fragen stellt – und die dümmsten finden Sie in loser Folge hier.

Welche Farbe hat das Virus?Naturschön grün, beinah als wärs ein Teil vom Ganzen... Foto: HFCM Communicatie / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int

(Michael Magercord) – Wenn man unterwegs ist und um einen herum alles in Bewegung scheint, sollte man des öfteren in den Rückspiegel schauen. Aber Achtung: Ist der Spiegel schief eingestellt, wird man immer nur sich selbst in den Blick nehmen. Was sieht man dort? Wie hier schon letztes Mal doch bloß wieder einen Kleinstaatler im Geiste. Hilfreich ist es dann, die Reise ins Unbekannte mit einem aufmerksamen Beobachter rückwärtiger Angelegenheiten zu fortzusetzen.

Der Straßburger Philosoph Jean-Luc Nancy, der uns an dieser Stelle bereits so manches Mal zur Seite stand, verglich schon vor Corona die derzeitige Stimmungslage im Abendland mit jener im untergehenden Rom. Auch damals war das Leben für die meisten Bürger noch leidlich bequem. Aber die Gewissheit, dass es nicht so bleiben wird, trieb die Römer zur kopflosen Verzweiflung, wie zeitgenössische Quellen belegen. Die alte bunte Götterwelt wollte nicht mehr ins Diesseits hineinwirken, doch der neue einzige Gott, dessen Bild man sich nicht machen sollte und der nicht zuletzt deshalb schon bald seine ganze Macht über das Jenseits entfalten wird, stand noch nicht in römischen Diensten. „Alles ging zu Ende, alle zuvor noch großen Ziele wurden obsolet”, weiß der Langzeitbeobachter und zieht eine Stimmungsparallele über die knapp zweitausend Jahre hinweg: „Heute leben wir in einer Kultur, die das Jenseits gegen die Zukunft ersetzt hat, und plötzlich entdecken wir, dass wir die Zukunft nicht mehr kennen.“

Stattdessen herrscht die ungezügelte Globalisierung des Freihandels und Finanzkapitals, mit der sich – so die wenig tröstliche Feststellung des Philosophen – überhaupt keine Hoffnung für die Zukunft mehr verbindet. Sie konnte ihre Herrschaft vor allem deshalb ausbreiten, weil wir keine fixen Ideen mehr haben, die wir ihr entgegensetzen könnten. „Bisher hindert uns dies daran, eine neue Form des Geistes und des Spirituellen – die es auf jeden Fall irgendwann geben wird – zu finden“, sagt Jean-Luc Nancy. Etwas Trost hält er aber doch bereit: „Wir können noch nicht wissen, in welcher Form dieser Geist einmal zum Ausdruck kommen wird, genauso wenig wie ein Römer des 4. Jahrhundert hätten wissen können, dass das Christentum das spirituelle Ding der Zukunft sein würde. Der neue Geist ist da und es gibt bereits seine Vorboten, aber wir erkennen sie nicht“.

Der Straßburger Denker empfiehlt als Ausweg aus dieser verwirrenden Lage das Denken. Aber Achtung: Wer jetzt meint, er könne nun einfach ein bisschen querdenken und hätte damit eine rettende Erkenntnis gewonnen, der findet sich bloß im selben Denkgebäude mit jenen wieder, die er in dessen Treppenhaus unflätig beschimpft. Doch jenes alte Denken in seinen eindeutigen Kategorien und griffigen Kausalitäten steht sich nur selbst im Weg, denn, so Jean-Luc Nancy, „die aktuellen Probleme sind zwar viel einfacher gelagert, als wir sie denken, aber von einer Art der Einfachheit, zu der wir so keinen Zugang mehr finden“.

Gruß von Proust – Ja, das Maß der Verwirrung, welches der Literat Marcel Proust an der Klarheit der Gedanken ablas, ist jedenfalls nicht zuletzt dank Corona gut gefüllt, und all die latenten Kleinstaatler im Geiste, die Stubenhocker und Ausharrer spüren, dass es jetzt auf sie ankäme: Her mit den wirren Ideen, geboren aus euren einfachen Träumen! Was wollt ihr schon groß? Das bisschen Friede, Freude, Eierkuchen wird wohl schon drin sein, selbst wenn nun vieles anders würde… aber uns will auch nichts Rechtes einfallen. Wissen wir wirklich, was wir wollen, das etwas anderes wäre, als das, was uns bisher vom Wachstumsindustrialismus und der Globalisierung beschert wurde? Und wenn da doch etwas Anderes in uns schlummerte, was hindert uns eigentlich daran, es herauszufinden?

Es wird Zeit für eine richtig dumme Frage, die klüger macht. Lauten müsste sie: „Wer bin ich?“ Aber diese Frage wäre viel zu klug, um darauf eine Antwort zu finden. Sie wäre ebenso unbeantwortbar, wie die Frage von Immanuel Kant: „Was ist der Mensch?“ Daran haben sich größere Geister als wir seit über zweihundert Jahren abgemüht und sind auch nicht weiter gekommen, als zu einem tragikfreien Ideal-Humanismus. Und der hat sich letztlich in eindeutige Erklärungsbilder für den Handlungsantrieb des Menschen verstiegen, wie den Homo Faber, der unentwegt aus sich heraus schaffende und tätige, die Natur umgestaltende Macher, oder den Homo Oeconomicus, der sich einzig durch wirtschaftliche Überlegungen leiten lässt. Der Gipfel der Einfältigkeit des Menschenbildes wurde wohl aber schon früher erreicht, und zwar mit den Ideologien des idealen Menschen, die dem Industrialismus des 19. Jahrhunderts erwuchsen und ihn als Proletarier oder Volksgenosse durch gemeinschaftliche Arbeit in der Produktion von allen individualisierenden Schlacken befreien sollte.

„Heutzutage läuft alles darauf hinaus, dass der Mensch dem Menschen nicht mehr als Modellfigur dienen kann, die man als Idealwesen in die Zukunft projizieren könnte“ – das war noch einmal Jean-Luc Nancy, der uns damit an die Rolle des humanistischen Menschenbildes an dem industrie-gemachten Klimawandel erinnert. Die Idee des ‘Humanismus’ genügt nicht mehr, um der Natur jenes seltsamen Wesens näherzukommen, das in der Lage ist, seine eigene Lebensumwelt zu zerstören: „Deshalb glaube ich, dass wir an das Ende eines Humanismus gelangt sind, der den Menschen als ein fertiges Wesen behandelt. Nein, der Mensch ist kein vollendetes Wesen. Wir sind unendlich, unendlich sein heißt nicht, unendlich lange zu leben, es heißt, dass es etwas in uns gibt, was nicht von der Zeit abhängig ist“.

Wer bin ich, und wenn ja… – Soweit der Straßburger Philosoph, der uns in die Unendlichkeit entlässt – und uns damit einerseits nur noch mehr ins Grübeln bringt, was er denn nun sein mag, der Mensch, und andererseits den Rat erteilt, diese Frage doch einfach zu vergessen. Es gibt darauf keine sinnvolle, für alle Zeiten endgültige Antwort. Allerdings muss man sich klarmachen, dass man mit dem Verzicht der Beantwortung des Unbeantwortbaren auch hehre, als unumstößlich geltende Konzepte einer Revision unterziehen müsste. Als Stichworte mögen die als unveräußerlich bezeichneten „Rechte“ gelten, die man allen Menschen zubilligt – was ja in der Praxis ohnedies nicht bedeutet, dass man sie jedem einzelnen Weltenbürger auch tatsächlich so mir nichts, dir nichts, zugestünde.

Aber immerhin gelten diese „Rechte“ zumindest in westlichen Gesellschaften als Maßstab der Ansprüche ihrer Bürger an die Welt – und damit auch die mehr oder weniger guten alten modernen Maßstäbe, die den Mensch in den Mittelpunkt seiner selbst stellen: Freiheit und Gerechtigkeit. Aber stoßen diese hehren Prinzipien spätestens bei der Klimafrage nicht zunehmend an ihre Grenzen – oder was will ein Begriff wie „Klimagerechtigkeit“ jetzt noch einfordern? Ein unveräußerliches Recht an einem „gerechten“ Anteil an den Früchten ausgerechnet jenes Wohlstandes, der für den Klimawandel verantwortlich ist? Oder geht es lediglich um die Bestimmung des Pflichtanteils eines Jeden an der Verzichtsleistung zu seiner Eindämmung?

Jeder Abschied vom Gewohnten fällt bekanntlich schwer, zumal keine unmittelbare Aussicht auf neues Weltbild besteht. Es wird kommen, zumindest wenn man der römischen Analogie des Straßburger Denkers folgt. Doch was wäre das spirituelle Ding der Zukunft, das dann wieder gut tausend Jahre Bestand haben wird? Was nähmen sich die Menschen dafür zum Maßstab? Vorschlag: die Natur. Animistisch beseelt tritt sie in Interaktion mit allen Erdenbewohnern, auch den denkenden – nun natürlich nicht mehr über die beschwörten Geister der Schamanen. Doch wissenschaftlich geprägte Denkmuster können ebenso gut für die Vorstellung von einem ganzheitlich verwobenen Lebensfeld sorgen. Als Vorbote für eine wissenschaftlich grundierte spirituelle Neuausrichtung, in der die Offenbarungen der Gebote unseres Handelns in der Natur vernommen werden, ließe sich ja schon heute die Fähigkeit von unscheinbaren Käfern deuten, ganze Großbaustellen mithilfe koleopterologischer Fachgutachten zumindest für kurze Zeit zum Stillstand zu bringen. So ein Animismus ohne Voodoozauber, aber mit einer Anspruchsmoral, die sich anders als die abendländische an den vorgegebenen Möglichkeiten der tatsächlichen Umwelt orientiert, das wär’s. Zugegeben, dieser Ideenvorschlag für einen Naturgeist der Zukunft ist natürlich nur ein rein spekulativer Vorgriff. Sicher kommt dann doch was noch ganz anderes daher.

Immerhin, Corona und sein alle befallender Virus mögen einen ersten Vorgeschmack auf die noch ausstehende geistige und lebensweltliche Anpassung an den Klimawandel gegeben haben, allerdings – der Impfforschung sein dank – wohl kaum mehr als ein Vorgeschmäckle. Und so wird also das Bild von einer unverwechselbaren Identität des Menschen, der mit universellen Rechten ausgestattet ist, die weit über das einfache Lebensrecht hinausgehen, noch eine Weile Richtschnur bleiben. Gut so, denn es ist das Schlechteste ja auch wieder nicht.

Dass dieses Bild aber im Wanken begriffen ist, darauf könnten ausgerechnet die in jüngster Zeit in alle Richtungen erstarkten identitären Bestrebungen verweisen. Das ostentative Betonen von zunehmend kleinteiligerer Persönlichkeitsformungen – Gender, Ethnie, LGTB+ – und die Einforderung nach ihrer besonderen öffentlichen Kümmernis ließe sich ja auch als ein Aufbäumen gegen die neue Ungewissheit des Eigenwertes des Menschen deuten – wie ein letzter Versuch, die kantische Frage nach dem Wesen des Menschen zumindest für sich selbst und seiner ausgemachten Peergroup noch eindeutig zu klären.

Ich bin Es – Ob es bloß Zufall ist, dass diese Selbstvergewisserungen, die oft mit Opfernarrativen verknüpft sind, gerade in Zeiten der Bedrohung durch ein Virus einen kräftigen Schub erhalten haben? Ja, das mag noch Zufall sein, einen Effekt hätte er aber eben doch: Die Fragen, die sich uns modernen Menschen, die wir in der Lage sind, unsere eigene Lebensgrundlage zu zerstören, stellen sollten, werden weiter aufgeschoben und die Mühen zu ihrer Beantwortung erst einmal mit zusätzlichen Konflikten belastet. Diese etwas wehleidigen Quengeleien werden uns letztlich im Wege stehen bei der Veränderung unserer Selbstbetrachtung und der Suche nach einem ausgeglichenen und lebbaren Umgang mit der Mit- und Umwelt. Es ist, als machte es sich jetzt erst recht alle Welt noch einmal bequem auf dem hohen Ross der stolzen Gewissheiten, von dem es doch eigentlich abzusteigen gelte, und versuchen zunächst einmal jeweils den als ihren Herrenreiter ausgemachten Hagestolz aus dem Sattel zu stoßen – aua…!

Wie gesagt: Die alten Römer*innen fingen in ähnlicher Lage an zu spinnen. Und weil er selbst ein alter weißer Mann ist und ein Kleinstaatler im Geiste noch dazu, nimmt sich dieser Autor darin nicht aus, auch schon ziemlich wirr geworden zu sein. Doch dabei muss er es ja nicht bewenden lassen! Eines kann er immerhin schon einmal versuchen: nämlich wenigstens seiner Verwirrtheit auf die Spur zu kommen. Zeit also für eine kluge Frage, die dumm genug daherkommt, um doch noch klug zu machen. „Was ist der Mensch?“ kann sie nicht lauten, wenn man eine Antwort bekommen will. Wie dann? Gott sei Dank macht es uns Corona leicht, die kluge Frage zu finden, die wir vielleicht für zu albern gehalten hätten, wären wir nicht all die Zeit auf unser Zuhause zurückgeworfen gewesen. Und so lautet die richtig dumme Frage, der wir uns im letzten Teil dieser Betrachtung stellen werden, nun eben nicht „Wer bin ich?“, sondern: „Wo bin ich?“

***

Mit dieser Frage entlasse ich Sie, liebe Leser, nun zunächst einmal in Ihr Zuhause, wo immer es sein mag. Wer sich schon damit abgefunden hat, dass die Suche nach der Identität des Wesens des Menschen hier so mir nichts, dir nichts aufgegeben wurde, der kann sich ja schon einmal darauf einstellen, dass nun unser Lebensumfeld und sogar die Stadt zur Natur erklärt wird: Zur ersten Natur in einem Gespräch mit dem Straßburger Architekturphilosophen Mickaël Labbé, das Sie HIER in voller Länge nachlesen können. Zur zweiten Natur demnächst dann wieder an dieser Stelle.

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