Eine Oper zur Traumabehandlung: Freischütz in der Rheinoper

Schon die Hörnermelodien des Vorspiels zur Oper „Freischütz“ macht klar, wohin uns ihre Aufführung führen soll: in eine Zwischenwelt, bestehend aus einer volkstümlich heiteren Oberwelt und den tiefen mystischen Abgründen einer Wolfsschlucht, kurz: nach Deutschland.

Kann Kunst nationale Traumata bewältigen? Der Freischütz wird die Antwort geben... Foto: Opéra National du Rhin / Klara Beck

(Von Michael Magercord) – Jede Nation hat ein Trauma. Wir auch. Ohne Trauma wären wir gar keine Nation. So zumindest hatte das uns der Politikwissenschaftler Herfried Münkler dieses Umstand vor einiger Zeit am Beispiel vom Trauma des 30jährigen Krieges erklärt. Uns, den Deutschen, denn unsere Nation ist immer noch geprägt von dem Gemetzel des 17. Jahrhunderts.

Und zwar geprägt durch eine kulturelle Leistung, mit der das Trauma erst zu einem wurde. Die kulturelle Beschäftigung mit der Historie macht die tief sitzenden Ängste aus ferner Zeit wieder erfahrbar. Ob die Ängste bereits in uns geschlummert haben? Oder doch erst erweckt werden, wenn man sich gewesene Zeiten vor Augen führt? Der 30jährige Krieg jedenfalls wurde erst ab der Jahrhundertwende von 1800 überhaupt als „deutsches“ Trauma wahrgenommen.

Was war geschehen? Es war die Zeit der napoleonischen Besatzung, als die vielen kleinen deutschen Fürstentümer und Königreiche ihre Schutzlosigkeit gegenüber einer geeinigten, revolutionären Nation so erlebten, wie sie sich das Ohnmachts- und Opfergefühl im 30jährigen Krieg vorstellten. Und mit denselben Mitteln, mit denen das vermeintlich nationale Trauma beschworen wurde, wird es auch bewältigt: durch Kultur. Eines der ersten und immer noch herausragenden Beispiele einer kulturellen Traumabewältigung ist die Oper „Der Freischütz“ aus dem Jahr 1821 mit einer herzzerreißenden Geschichte aus dem Böhmen des Jahres 1648.

Die eigentliche Handlung erscheint heutzutage so gar nicht mehr zur nationalen Erweckung zu taugen. Darin geht es um Jäger, Schützen und eine altertümliche Form der Eheanbahnung unter Weidmännern. Um seine Liebste zu erwerben, muss der junge Schütze mit einem Schuss seine Treffsicherheit beweisen, sonst wird es nichts mit der Ehe. Da helfen nur magische Kugeln, die trifft, was man will. Doch ist auch immer eine teuflische Freikugel darunter, die trifft, was sie will. Und genau das tut sie, fliegt mit einem Umweg über die Liebste und tötet den Freund und Konkurrenten. Nach der Empörung der Bevölkerung über diesen albernen Brauch stimmt der Fürst seiner Abschaffung zu, im Schlusschor wird die Milde Gottes gegenüber jenen gepriesen, die reinen Herzens sind.

So weit, so romantisch düster. Aber das wahre Trauma liegt ja nicht in der Story, die steht nur für das, was im Hier und Jetzt am Bewusstsein nagt. Alles in einem Bewältigungsdrama ist ein Symbol. Doch wofür? Die mystische Kraft des Althergebrachten, das reine Begehren des Volkes, die Güte ihrer Herrscher, die als Seeleneinheit harmonisch und ganz ohne Revolution in eine neue Zeit aufbrechen. So müssen es die Zeitgenossen wohl gesehen haben, und so wurde selbst – oder gerade – der Termin der Uraufführung in Berlin symbolisch gesetzt. Die wurde nämlich sechs Jahre nach dem Ende der Herrschaft Napoleons auf den 18. Juni gelegt. Da klingelt’s doch? Nein, nicht die Schlacht von Alesia, über die die alten Gallier nicht sprechen wollten, sondern jene von Waterloo wurde 1815 an diesem Datum entschieden – worüber übrigens die heutigen Franzosen noch immer nicht freimütig sprechen mögen, zumindest nicht ihre Regierung, die es den Belgiern untersagte, auf ihre Euromünzen das Denkmal vom Schlachtort prägen zu lassen.

Damals gab es allerdings schon wache Geister, wie den Kritiker Ludwig Börne, der 1822 über die nationale Erweckung per Singspiel witzelte: „Wer kein Vaterland hat, erfinde sich eins! Die Deutschen haben es versucht auf allerlei Weise, und seit dem Freischützen tun sie es auch mit der Musik“. Und er fügte seiner Beobachtung noch eine Anmerkung hinterher, die heute noch genauso gültig ist wie damals: „Sie wollen einen Hut haben, unter den man alle deutschen Köpfe bringe. Man mag es den Armen hingehen lassen, dass sie sich mit solchen Vaterlands-Surrogaten gütlich tun.“

Den Volksmassen ein Volk vorgaukeln, um dann mit ihrer tumben Hilfe ein eigenes Süppchen zu kochen? Diese politische Taktik, die spätestens nach den gescheiterten 1848er Revolutionen in ganz Europa zum Handwerkszeug der Herrscher wurde, kommt uns heute wieder verdammt bekannt vor. Und so muss man in den Zeiten einer national aufgeladenen Europawahl feststellen, dass der Freischütz nun zu einer internationalen Oper geworden ist – und fast möchte man sagen: leider.

Ob es hilft, wenn man sich an einem alten Traumabewältigungswerk anschaulich macht, wie dieser Mechanismus einer nationalen Erweckung funktioniert? Das Werk, womit das Trauma bewältigt werden soll, mag zwar nicht mehr so ganz auf der Höhe der Untiefen unserer Zeit zu sein. Vielleicht aber ist es trotzdem ganz gut, einmal wieder vorgeführt zu bekommen, wie relativ die Werte der Nation im Grunde sind. Ja, da müssen wir durch, zumal uns die vielen wunderbaren Passagen tiefer Romantik, die zeitlosen Ohrwürmer und Bläsermelodien das besonders leicht machen. Außerdem werden die beiden – deutschen – Regisseure dieser Straßburger Neuinszenierung uns schon zeigen, was ein „Freischütz“ heute noch zu sagen hätte.

Man kann es aber auch einfach halten wie Heinrich Heine, diesen Spötter allen Volkstümlichen, der doch sogleich Volkstümliches geschaffen hat: „Haben Sie noch nicht Maria von Webers ‚Freischütz‘ gehört?“, fragte er des Volkes Männer. „Nein? Unglücklicher Mann! Aber haben Sie nicht wenigstens aus dieser Oper ‚das Lied der Brautjungfern‘ oder ‚den Jungfernkranz‘ gehört? Nein? Glücklicher Mann!“

Der Freischütz – Oper von Carl Maria von Weber

Regie: Jossi Wieler, Sergio Morabito
Musikalische Leitung: Patrick Lange
Symphonie Orchester Mühlhausen

Straßburg – Opéra
MI 17. April, 20.00 Uhr
SA 20. April, 20.00 Uhr
DI 23. April, 20.00 Uhr
DO 25. April, 20.00 Uhr
SA 27. April, 20.00 Uhr
MO 29. April, 20.00 Uhr

Mulhouse – La Filature
FR 17. Mai, 20.00 Uhr
SO 19. Mai, 15.00 Uhr

Informationen und Tickets hier!

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.

*



Copyright © Eurojournaliste