Generation der Versager (2)

Bei der letzten Sitzungswoche vor den Wahlen wurden wir im Straßburger Parlament aller Europäer daran erinnert, dass alle Europäer gar nicht alle sind: Mit der 16-jährigen Klimaaktivistin Greta Thunberg war eine junge Frau zu Gast, die noch nicht wählen darf und doch etwas zu sagen hat – nämlich uns, der Generation der Versager.

Die große Illusion "Fin du monde - fin de mois - même combat" - die halb gewendete Weste eines Mitläufers beim Klimamarsch Straßburg am 16.3. Foto: Michael Magercord / EJ

(Von Michael Magercord) – Das ganze Dilemma noch mal in Kurzform: Während ich diesen Text über den Umgang mit dem Klimawandel schreibe, braucht mein Laptop Strom, und die Internetnutzer, die das nun lesen, haben mit dem Klick, der sie zu dieser Webseite brachte, Energie verbraucht – wenn man alle Klicks dieser Welt zusammenzählt, sogar mehr als der Flugreiseverkehr.

Doch trotz dieser Warnung haben sich schon beim ersten Teil dieser Generationsbetrachtung nicht alle Leser wieder einfach davon geklickt. Danke dafür! Doch doch, ich muss mich dafür bedanken, denn es tut gut, als alternder Mensch noch gehört zu werden – besonders in diesen jungen Zeiten des stetigen Wandels und Neuerungen. Womit ich beim Problem bin: bei mir, dem Versager im Angesicht des Wandels.

Das rasant beschleunigte Tempo dieses Wandels durch die digitalen Technologien führt uns besonders deutlich vor Augen, was die industrielle Gesellschaft schon immer ausmachte: dauernde Veränderung ist ihr Wesen und Mitmachen erste Bürgerpflicht. Man spürt zwar auch immer ein Unbehagen, aber wer nicht abgehängt sein will, muss sich anpassen oder wird „fit gemacht“ für den Arbeitsmarkt. Fragen nach dem Sinn des ewig Neuen verbieten sich, denn der findet sich schon, wenn das Alte erst einmal aus dem Weg geräumt ist – und wenn er sich nur darin erschöpft, dass die Alltagsbewältigung ein klein wenig bequemer gestaltet wurde. Was zählt es dann noch, dass im Gegenzug die Mühen um das Mithalten mit diesem Dauerwachstum gleichsam größer werden?

Wäre es nun zu dick aufgetragen, wenn man diesen Fatalismus auf den Umgang mit dem Klimawandel überträgt? Der Klimawandel ist der Ausdruck der zerstörerischen Wachstumsideologie. Doch in Anbetracht der drohenden Veränderung fiel uns bisher nichts weiter ein, als neue Technologien zu „fördern“ und einen „grünen“ Arbeitsmarkt zu erfinden. Und dass, obwohl man langsam versteht, dass die Art, wie wir Arbeit gestalten, die wohl größte Ursache für den Klimawandel darstellt. Denn ihre ungeheure Produktivität und deren Anforderung an uns Menschenkinder müssen wir mit dem Verbrauch dieser viel zu vielen Güter kompensieren, der weit über einen normalen täglichen Bedarf hinausgeht.

Wäre die folgende Parallele nun auch erlaubt? Denn wenn es schon nicht gelingt, ein bisschen der gewohnten Lebenswelt vor unserem steten Tatendrang zu bewahren, wie sollte das dann mit dem gewohnten Zustand unserer natürlichen Umwelt glücken? Dem Bewahren sind wir nicht gewachsen, weil es nicht die Tat einfordert, sondern das Unterlassen. Zwar mag es dem Einzelnen gelingen, auch einmal Dinge so zu belassen, wie sie sind, nicht aber einer modernen Gesellschaft insgesamt. Und obwohl meine Alterskohorte sich bereits mit der Idee angefreundet hat, dass es besser wäre, auch mal nichts zu tun, ist sie nie ernsthaft in den Katalog der gesellschaftlichen Handlungsoptionen überführt worden. Bleibt uns Versagern jetzt nur noch, eine Antwort zu suchen auf die Frage, woran es eigentlich bisher scheitert ist, diesen Gedanken im gesellschaftlichen Diskurs zu verankern?

Antwort eines Philosophen: an unseren verbohrten Denkstrukturen. Die sind – so jedenfalls sieht es Jean-Luc Nancy – von Begriffen geformt, die sich umgehend mit moralischer Bedeutung aufladen und deshalb einen offenen Diskurs nicht zulassen. Freiheit, Gerechtigkeit und Vernunft zählen für den Straßburger Denker zu solchen Begriffen. „Man weiß nicht mehr, ob Begriffe ausreichen, ein Denken und damit die Welt sinnhaft zu gestalten“, glaubt Jean-Luc Nancy stattdessen und fügt hinzu, dass Denken in moralisierender Bedeutung nichts weiter ist, als die „Verwaltung von überlebten Projekten und Visionen“.

Und was schließt der Versager des Wandels aus der Überlegung des Philosophen, wenn er sich auf dessen ungewöhnlichen Gedanken einlässt? Meine schöne individuelle Freiheit mutiert dann zum egomanen Zwang des Handelns; irdische Gerechtigkeit wird etwas, das sich nie erfüllt, schon gar nicht gegenüber mir; und das Beharren auf Vernunft veranlasst mich dazu, etwas als unumstößliche Realität zu akzeptieren, was vielleicht gar keine ist. Es sind alles Begriffe, die meine Taten einfordern, jedenfalls, wenn man sie so denkt und gebraucht, wie wir modernen Menschen es tun.

Doch Menschen könnten auch anders, zumindest im Denken. – Der senegalesische Philosophieprofessor Cheikh Moctar Ba zeigt die gedanklichen Variationsmöglichkeiten am afrikanischen Beispiel auf: Im Abendland ist die Gerechtigkeit zu einem hehren, aber letztlich aus der Natur enthobenen moralischem Prinzip erkoren, deren daraus abgeleiteten Ansprüche sich wenig um die physischen Gegebenheiten der Umwelt und den natürlichen Beschränkungen scheren. „Das afrikanische Universum hingegen beruht auf einer Ordnung, die es nicht zu stören gilt“, sagt der Mann aus Westafrika und stellt fest: „Wir Afrikaner sind die wahren Materialisten“.

Und zwar, weil im afrikanischen Denken die Moral auf den tatsächlichen Ergebnissen des Handelns beruht: “Für die moralische Bewertung einer Handlung wird die ganze Wirklichkeit berücksichtigt, die Bedingungen der Existenz und des Universums, oder modern ausgedrückt: die Umwelt. Während die Ethik von Kant das Prinzip, nach dem jemand handelt, moralisch bewertet, setzt man bei uns voraus, dass sich das Denken grundsätzlich in der Umwelt materialisiert. Dementsprechend nimmt man wegen der Unmöglichkeit der Einschätzung aller natürlichen Elemente die Unvollkommenheit der Moral von vornherein in Kauf. Das ist ein großer Unterschied zum unbedingten moralischen Prinzip des Westens, das sich aber gerade wegen seiner Unbedingtheit um die materielle Welt nicht kümmert. Die abendländische Moral hat sich seiner Umwelt beraubt.”

Nun lebt es sich heutzutage natürlich auch in Afrika nicht mehr umweltneutral, aber allein, dass der Mensch in der Lage ist, umweltbezogen zu denken, könnte ihn letztlich dazu bringen, auch einen einfachen Weg zur Klimabewahrung einzuschlagen. Der liegt klar vor uns, und ja, fast schämt man sich, diese abgedroschene Phrase immer und immer wieder in Mund nehmen zu müssen, trotzdem: Weniger ist mehr! Oder wie es der Materialist Cheikh Moctar Ba ausdrückt: „Ökologie ist nicht bloß eine Frage nach dem Gebrauch von Technik und der Art, wie wir technische Systeme umordnen, sie ist zuallererst eine kognitive und kulturelle Frage: Wir müssen nicht Milliarden aufbringen, um ökologisch zu sein.”

Die wahren Magier leben also im Abendland: Sie fahren panzerartige SUVs, die ihre eigene Atemluft verpesten, und wähnen sich frei. Sie produzieren Unmengen von Waren aus endlichen Rohstoffen und halten das für vernünftig. Sie denken, sprechen und benehmen sich, als bewohnten sie schon einen neuen Planeten B, dessen Umweltbedingungen so gar nichts mehr mit denen ihres Ausgangsplaneten gemein hat. Und unter diesen wahren Fantasten leben auch noch die wahren Versager. Das sind jene, denen es schon dämmert, dass sich etwas grundlegend ändern müsste, wollte man auf dem Planeten A wenigstens noch eine Weile relativ gemütlich wohnen können. Das sind jene also, die sich sogar redlich mühen, Alternativen zu durchdenken. Solche eben wie du und ich und so mancher anderer meiner Alterskohorte – und ausgerechnet jene reden nun auch noch von Gerechtigkeit, wenn sie vom Klima sprechen.

„Klimagerechtigkeit“ heißt ihre jüngste Zauberformel aus der Wörterküche der abendländischen Begriffsmagie, mit dem sie in eine vermeintlich neue Zeit aufbrechen wollen. Mit dieser Wortkomposition soll genau das geschehen, was die semantische Hexerei schon vorweggenommen hat: nämlich alles, was in der Welt gerade schiefläuft, mit einem Schlag aus der derselben zu schaffen. Klimawandel, globale Ungleichheit und sozialer Friede in den einzelnen Gesellschaften – dafür gibt es nun einen Begriff, der die Widersprüche, die sich aus den unterschiedlichen Problemlagen ergeben, zu einem großen Lösungssystem fügt.

Ich traue mich kaum, alles aufzuzählen, was sich letzte Woche unter dem Titel Klimagerechtigkeit gar zu einem Manifest geformt hat und im Straßburger Parlament von der Fraktion der Linken vorgestellt wurde, deshalb nur soviel: Der Kampf ums Klima und die Menschenrechte sind verknüpft, die Klimagerechtigkeit muss Teil der Rechtsordnungen werden, wobei der „gerechte Übergang das Herzstück der Klimaschutzpolitik bildet”. Dazugehört das „Recht auf Energie“ für alle gleichermaßen, und klar: die “Maßnahmen zum Klimaschutz müssen den Ansprüchen von Geschlechtergerechtigkeit entsprechen”. Kurz:  “eine europäische, strategische, langfristige Vision für eine wohlhabende, moderne, wettbewerbsfähige und klimaneutrale Wirtschaft” gilt es zu entwerfen.

Und weil das doch so schön klingt, traue ich mich noch weniger mitzuteilen, welche hehren Absichten die Autoren in ihrem Konzept verwirklicht sehen: Ein Abschied vom Wachstumsmodell bei gleichzeitiger Forderung nach dem Ende der Sparpolitik und mehr Investitionen, und das alles bei höherer Kaufkraft für untere Einkommen. Ganz neu ist das nicht, in Frankreich läuft es unter dem griffigen Motto „fin du monde – fin de mois – meme combat“: Der Kampf um das Ende der Welt und das des Monats werden im selben Gefecht ausgetragen – und folgt man dem umfassenden Lösungsansatz der Autoren des Manifestes, möge es das letzte sein.

Der Traum einer Generation ginge in Erfüllung: schöner Wohnen, besser Essen, exotische Reisen und alles bei absoluter Klimaneutralität – und ausgerechnet die Gerechtigkeit, das große Relativum unter den moralischen Unbedingtheiten des Abendlandes, soll dafür sorgen. Und weil die Menschen aus den Industriestaaten ja bisher so unersättlich waren, gesteht das Gerechtigkeitsprinzip jenen, die bisher nicht so klimaböse waren, zu, nun erst einmal etwas mehr CO2 produzieren zu dürfen. Ist das nicht nett? Unsere Dieselautos für Afrika… Im Gerechtigkeitsstreben steckt eben auch immer eine gute Portion Selbstgerechtigkeit – oder wie es Professor Moctar Ba aus dem Senegal ausdrückt: „Wenn Sie jemanden betrachten, der gemäß der kantischen Moral gegenüber einem Dritten handelt, stellen Sie fest, dass er den Anderen bloß als Mittel zur Erfüllung seines höheren moralischen Zwecks betrachtet.”

Wie absurd es ist, aus den Worten „Klima“ und „Gerechtigkeit“ einen moralischen Imperativ zu formen, zeigt sich, wenn mit dem Begriff ernst macht: Wie gerecht ist Klima? Unerbittlich gerecht, die Folgen seines rasanten Wandels schlagen einfach zu, wo es ihm gefällt. Das trifft irgendwann jeden. Und es ist kein „combat“, kein Kampf, den wir da mit der Natur austragen, sondern es geht schlicht darum, sich an die physische Realität des Planeten A anzupassen – nicht mehr und nicht weniger, wobei wohl eben ein „Weniger“ schon das „Mehr“ ist.

In derselben Sitzungswoche, in der das Manifest der Klimagerechtigkeit präsentiert wurde, war auch Greta Thunberg im Europäischen Parlament zu Gast. Und nicht zuletzt, weil dieses Mädchen aus Schweden immer nur autistisch-stoisch wiederholt: Habt Sorge! Tut was!, traue ich mich nun zu sagen: Wie wäre es, wenn wir uns endlich eingestünden, dass zwei Herzen in unserer Brust schlagen, und das, was wir uns wünschen, tolles Klima für Wetter und Konsum, in sich widersprüchlich ist. Jeder Versuch, beides aus einem semantischen Hut zu zaubern, nährt nur die Illusion, nichts wirklich an unserem Leben ändern zu müssen. Müssen wir aber, und daran ist – leider – auch nichts gerecht, weil es alle betrifft, egal wo sie leben.

Wo ist der Weg, der uns aus dem Erkennen der eigenen Widersprüchlichkeit leitet? Auf die Spur kommt man ihm nur im Denken, und wenn weniger mehr sein soll, fängt es schon damit an, verbal abzurüsten. Wie wäre es, statt mit „gerecht“ es einfach mal mit „gerechtfertigt“ zu versuchen? Klingt zumindest bodenständiger und realistischer als hehre Manifeste, was im Angesicht des Umgangs mit der Natur gar kein schlechter Aussatz wäre, oder?

Nun haben Sie, lieber Leser, Dank, dass Sie bis hierher durchgehalten haben. Wie gesagt, es tut gut, in meinem Alter noch gehört zu werden, wo doch meine Alterskohorte zu den ganz großen Versagern gehört. Sich immer bewusst gewesen zu sein, was man tut, und es trotzdem zu tun, ist nun einmal keine Glanzleistung. Möglicherweise erwächst aus dieser Diskrepanz zwischen Denken und Handeln meine tiefe Skepsis vor großen Begriffen. Aber ach, hätte ich doch Unrecht! Wäre es doch so, dass je gewaltiger das Wortgebilde daherkommt, desto stärker seine Wirkung ist – allein mir fehlt der Glaube. Dabei gibt es Hoffnung! Doch doch – aber davon erzähle ich dann im dritten und letzten Teil dieser Generationsbetrachtung. Der wird erscheinen, sobald sich wieder ein Anlass dazu bietet, der – soviel ist sicher – in der Frage des Klimawandels nicht lange auf sich warten lässt.

Bis dahin gibt es hier noch einmal den ersten Teil.

Und hier finden Sie das komplette Gespräch mit dem senegalesischen Philosophen Cheikh Moctar Ba.

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