Frankreichs Zerrissenheit
Unsere französischen Nachbarn haben sich in die wohl grösste Krise der V. Republik manövriert. Wie sie aus dieser Krise wieder herauskommen wollen, ist völlig unklar.
(KL) – Die „Gelbwesten-Krise“ hat Frankreich tief gespalten. Eine schwer einzuschätzende, aber auch nach drei Monaten immer noch sehr virulente Bewegung, in der sich so ziemlich alles tummelt, was in Frankreich unzufrieden ist, von Links- und vor allem rechts-Extremisten unterwandert, ohne Strukturen, ohne Sprecher, ohne klar formulierte Ziele steht einer ebenso schwachen Regierung gegenüber, die in ihrer Planlosigkeit nur noch auf Zeit spielt. Doch die Zeit wird diese sozialen Unruhen nicht lösen können – es muss gehandelt werden. Doch wie?
Präsident Macron hat in den letzten Monaten fast alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Ungeschickte politische Maßnahmen wie die Senkung des Wohngelds und die Kürzung von Budgets für den zivilgesellschaftlichen Bereich, die Streichung der Reichensteuer ISF, wochenlanges Schweigen angesichts der Unruhen im Land – und inzwischen kann Macron machen, was er will, die Mehrheit der Franzosen hat keinerlei Vertrauen mehr in ihren Präsidenten, der zwar ein Champion der politischen Kommunikation, aber kein tatkräftiger Präsident ist.
Skandale und Skandälchen ranken sich mittlerweile um die französische Regierung, die mehr mit sich selbst als mit dem Management des Landes und seiner aktuellen Krise beschäftigt ist. Die „Grossen Nationalen Debatten“ sind sicherlich ein gutes Ventil, über das die Franzosen Dampf ablassen können, doch aus diesen Debatten kommt eigentlich nichts heraus, was die Regierung nicht schon wusste. Doch jetzt wartet man erst einmal Mitte März ab, das Ende dieser Debatten-Reihe, um dann die Ergebnisse auszuwerten. Und um dann zu überlegen, was von den Vorschlägen und Forderungen umgesetzt werden kann. Das alles könnte man auch schneller haben, wenn man es denn wollte.
Dabei ist die „Krise“, von der die „Gelbwesten“ reden, im Grunde gar keine Krise. Das Narrativ von der „französischen Diktatur“, eine „geknechteten Volks“, das ab Monatsmitte „nichts mehr zum Essen hat“, ist das Narrativ der Extremisten, die genau dieses Gefühl in der Bevölkerung stimulieren wollen. Natürlich ist Frankreich keine Diktatur, sonst würden sich die gewalttätigen Demonstranten (doch, doch, die gibt es, nicht alle, aber viele…) alle zusammen unter Militärüberwachung im Stade de Frace befinden. Natürlich ist Frankreich ein Sozialstaat – jeder der Demonstranten hat Anspruch auf Wohnung, Krankenversicherung und Existenzminimum. Man muss nicht einmal Europa verlassen um Länder zu finden, in denen die Menschen nicht über eine solche Rundum-Versorgung verfügen.
Nur – für eine Debatte um einen grundlegenden Systemwechsel, also die Abschaffung oder Veränderung des marktwirtschaftlichen Dogmas, fehlt es den handelnden Akteuren momentan schlicht und ergreifend an den intellektuellen Möglichkeiten. Eine Anpassung eines gesellschaftlichen Systems an die Realitäten des 21. Jahrhunderts kann nicht über die Gewalt von der Strasse erfolgen, sondern erfordert die grauen Zellen derjenigen, die von den „Gelbwesten“ so gehasst werden – den Eliten.
Doch wenn man sich anschaut, was diese Eliten aus den französischen Topschulen wie der ENA oder Polytechnique gerade abliefern, kann einem Angst und Bange werden.
Und so bleibt nur die Hoffnung, dass Emmanuel Macron gerade die besten Köpfe des Landes aktiviert hat, um neue gesellschaftliche Konzepte zu erabeiten, die als Antwort auf die aktuelle Krise präsentiert werden müssen. Allerdings sind Zweifel erlaubt, ob die französische Regierung gerade an so etwas arbeitet. Momentan hat man eher das Gefühl, dass Emmanuel Macron nur das tut, was er ohnehin seit fast zwei Jahren tut – politische Kommunikation. Die nächsten Wochen könnten für Frankreich dramatisch werden.
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