Macht’s doch wie Europa

Minderheitsregierung, wechselnde Mehrheiten, Projektregierung – in Spanien gibt es nun das eine, in Österreich herrscht jetzt das andere, und in Thüringen diskutiert man was ganz neues – nur in Europa war das alles schon immer so

Ja, ein Parlament. Und das befindet sich laut Europäischer Verträge in Strasbourg. Ende der Durchsage. Foto: (c) Michael Magercord

(Von Michael Magercord) – Zur EVP gehört die ÖVP, und so scheint es ja nur normal zu sein, dass der Vorsitzende der Fraktion der Konservativen im Europäischen Parlament der seit letzter Woche amtierenden österreichischen Regierung unter ÖVP-Kanzler Kurz zum Neustart einen Glückwunsch mit auf den Weg gibt.

Alles normal also? Manfred Weber erwähnte in seiner Glückwunschadresse im Pressesaal im Straßburger Parlament ausdrücklich auch die neue Konstellation dieser Regierung, und im Anschluss outet sich der CSU-Mann gegenüber Eurojournalist(e) als Sympathisant des Schwarz-Grünen-Projektes. Einmal mehr – muss man zugegeben, denn aus seiner Ansicht, dass die Verbindung aus Konservativen und Grünen die politische Zukunft darstelle, macht der Bayer schon seit einigen Monaten keinen Hehl.

Ob sich da wieder der selbst erklärte Brückenbauer in ihm regt? „Unsere Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr, wir müssen die Gegensätze überwinden“, sagt Manfred Weber und nennt als Beispiel den zunehmend schärferen Diskurs zwischen Bauern und Bürgern. Die Produzenten und Konsumenten von Lebensmitteln hätten doch eigentlich gemeinsame Interessen, Schwarz-Grün könnte für einen politischen Ausgleich sorgen.

Ob der Vizevorsitzende der CSU damit nun bei seiner Partei schon eine Mehrheitsmeinung vertritt, sei dahingestellt, aber einen besonderen Erfahrungsschatz kann der Europäer unter den Führungskräften der Christsozialen mit in den Annäherungsprozess einbringen: die tägliche Arbeit im Straßburger Parlament.

Darin nämlich werden über die Fraktionsgrenzen hinweg Mehrheiten gesucht und in immer wieder neuen Konstellationen gefunden. Allianzen zwischen den Fraktionen gibt es, aber sie bilden keine feststehenden Bündnisse: „Das ist doch klüger, als eine Koalition für fünf Jahre mit feststehendem Programm abzuschließen und dann egal was sich ändert, nur immer diese Punkte abzuarbeiten“, betont Manfred Weber. Und so etwas Ähnliches haben nun auch die österreichischen Koalitionäre geplant. Wenn die doch so unterschiedlichen Regierungsparteien sich bei einem strittigen Thema absolut nicht einig werden, sollen die Parlamentarier untereinander versuchen, eine Mehrheit zusammenzukriegen.

Einmal träumen? Wenn eine solche Regelung etwa im Bundestag während der vorangegangenen Legislaturperiode gehandhabt wäre, was hätten etwa SPD, Grüne und Linke alles durchsetzen können, ohne immer auf die CDU Rücksicht nehmen zu müssen: etwa eine Grundrente, die diesen Namen verdient und vielleicht dazu taugen würde, dass kein alter Mensch in Deutschland zur Tafel gehen müsste…. Oh, zu schön wohl, um wahr geworden zu sein. Dann eben wenigstens ein Tempolimit auf der Autobahn – aber ach, als der Antrag ja nun schließlich in den Bundestag eingebracht wurde, war es da nicht auch die Fraktion der SPD, die ihn größtenteils zurückwies…

Na gut, so einfach geht es wohl nicht mit der Politik in Zeiten immer weiter parteipolitisch zersplitterter Parlamente. Dann aber wenigstens eine „Projektregierung“, wie sie in Thüringen letzte Woche noch diskutiert wurde: also eine Regierung ohne eigene Mehrheit, die aber über Absprachen mit der Opposition zu bestimmten Projekten zu Entscheidungen findet. Man könnte es auch einfach Minderheitsregierung nennen, wie sie etwa in Dänemark schon immer Usus ist. Dort gab es fast nie Mehrheitsregierungen, allerdings beinhaltet die dänische Verfassung auch den Passus, wonach eine Regierung nicht gegen den erkennbaren Willen der Mehrheit handeln darf. Gesetze werden natürlich trotzdem verabschiedet – selbst eines für die staatlich finanzierte Verrentung von alternden Zirkuselefanten.

Noch einmal träumen? Oder doch einen Alpdruck verspüren? Im derzeitigen Bundestag könnten nun ganz andere Projekte eine überparteiliche Mehrheit finden: Endlich eine neue Einwanderungspolitik, die aber vielleicht gleichsam eine äußerst restriktive Auslegung des Grundrechts auf Asyl mit sich bringen könnte. Dazu mag man stehen wie man will, aber aus diesem Beispiel leitet sich trotzdem die Frage ab, ob in einer politisch volatilen und ad-hoc-agierenden Mehrheitsbeschaffungsdemokratie noch ein übergeordneter politischer Kompass die Richtung vorgeben kann?

In Österreich regiert Schwarz-Grün nun mit genau der Option, derart strittige und oftmals gerade grundlegenden Themen dem Parlament zu überlassen – und so mancher Kommentator bezeichnete die neue Regierung in Wien als „Testlauf“ für eine ähnliche Konstellation im großen Nachbarland im Norden. Und in Straßburg wiederum ist das sowieso schon bei allen politischen Fragen so: Im Europäischen Parlament suchen sich sogar einzelne Abgeordnete für ihre Anliegen die Mitstreiter aus den unterschiedlichsten Fraktionen zusammen, ob gegen Plastikstrohhalme oder für die Abschaffung der Zeitumstellung – und auch für die Schaffung der ein oder anderen gut verzichtbaren Mikroverordnung, die ihre segensreiche Wirkung eher beim beschäftigungstherapeutischen Wechselspiel zwischen geltungsbedürftigen EP-Hinterbänklern und übertüchtigen Kommissionsbeamten entfaltet. Doch einmal in die Welt gesetzt, werden sie zu geltendem Recht – für Bauern und Bürger.

So oder so, die Frage nach einer neuen Form für die ausgleichende Entscheidungsfindung in sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaften steht unwiderruflich auf der Tagesordnung in nahezu allen repräsentativen Demokratien – und Europa und sein Parlament ist das offene Laboratorium für weitere, spannende Versuche ihrer Weiterentwicklung. Wohin die Reise gehen wird? Ob die Bürgerkonferenzen zur Zukunft der europäischen Institutionen, die die Kommission in den kommenden zwei Jahren in der ganzen EU abhalten will, das klären können? Oder doch eher Testläufe in Wien und anderswo? Eines ist gewiss: Ob aus Bayern oder Europa, Glück kann man allen daran Beteiligten – und damit uns selbst – nicht genug wünschen.

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