Macron öffnet die Büchse der Pandora…
… und entfesselt einen Sturm der Entrüstung gegen die nun am Parlament vorbei durchgeboxte Rentenreform, die von mehr als zwei Dritteln der Franzosen abgelehnt wird. Demokratie geht anders.
(KL) – Es ist an der Zeit, mal wieder die Definition des Begriffs „Demokratie“ hervorzukramen. So kann man auf der Internet-Site des Deutschen Bundestags lesen „In dieser Staatsform übt das Volk die Herrschaftsgewalt aus“. Doch das scheint in Frankreich nun nicht mehr zu gelten. Aus Angst vor einer Abstimmungsniederlage limitierte die französische Regierung die Debatten zur Rentenreform im Senat und verdonnerte die zweite gesetzgebende Kammer des Landes zu einer „blockierten Abstimmung“ nach §44.3 der Verfassung und verzichtete gar ganz auf die Abstimmung im Parlament, der Nationalversammlung, mit Hilfe des §49.3 der Verfassung. Gestern wurde nun die parteiübergreifende Vertrauensfrage behandelt und abgestimmt, die von der kleinen Mitte-Rechts-Fraktion LIOT eingereicht worden war und mit der die Reform noch hätte aufgehalten und die Regierung hätte gestürzt werden können. Mit Hilfe der konservativen „Les Républicains“, zumindest mit zahlreichen LR-Stimmen, konnte die Macron-Partei „Renaissance“ aka „La République en Marche“ dieses mit dem sehr knappen Vorsprung von 9 Stimmen gerade noch verhindern.
Der 20. März 2023 war einer der spannendsten Tage im politischen Frankreich der letzten Jahre. Um ein Haar, bzw. 9 Stimmen, ist Präsident Macron an einer historischen Niederlage vorbeigeschrammt, doch dafür werden viele seiner Abgeordneten und auch der Abgeordneten der konservativen LR, die sich als Blinddarm-Fortsatz der Macron-Partei entpuppt hat, einen hohen Preis bezahlen, wenn sie sich das nächste Mal dem Votum derjenigen stellen müssen, von denen heute 68 % das Gefühl haben, „verraten“ worden zu sein. Nachdem kurz vor 19 Uhr das Ergebnis der Abstimmung bekannt gegeben wurde, starteten auch schon die abendlichen und nächtlichen Demonstrationen, die nun ganz anders aussehen und ablaufen als die Großdemonstrationen der Gewerkschaften der letzten beiden Monate.
Die Mobilisierung dieser spontanen Demonstrationen ist weiterhin hoch (so waren gestern Abend alleine in Straßburg rund 2500 Demonstranten unterwegs), doch die Teilnehmer sind deutlich jünger geworden und man sieht wieder zahlreiche „Black Blocks“ in den Demonstrationen, bei denen auch wieder Mülltonnen brennen, auf der einen Seite Tränengas, auf der anderen Seite Tags gesprüht werden, Schaufenster zu Bruch gehen und sich vieles Luft verschafft, was nicht nur mit dieser Rentenreform zusammenhängt.
Mit dem demokratisch höchst zweifelhaften Vorgehen des Präsidenten und seiner ausführenden rechten Hand, Premierministerin Elisabeth Borne, ist das Vertrauen in die Politik bei einer großen Mehrheit der Franzosen zutiefst erschüttert. Es mag sein, dass Macron und Borne gestern einen „Sieg“ über die Franzosen errungen haben, doch dabei haben sie ihr Volk verloren, das nun bis zum Ende dieser alptraumartigen Regierung jeden ihrer Schritt sehr aufmerksam beobachten wird. Es gibt „Siege“, die sich sehr schnell als „Niederlagen“ herausstellen können.
Doch der gestrige Frühabend brachte noch mehr Erkenntnisse. Dass Präsident und Regierung zwei Drittel ihrer Landsleute für Vollpfosten halten, die man entmündigen und an deren Stelle man entscheiden muss, das war schon bekannt. Weniger klar war, dass sich die konservative Partei „Les Républicains“ lieber zum Erfüllungsgehilfen Macrons und damit künftig unwählbar macht, statt zum „Helden Frankreichs“ zu werden, indem sie diese Reform stoppt, was sie problemlos hätte tun können. An ihrem traditionellen Platz mitte-rechts im politischen Spektrum befanden sie sich genau dort, wo sie in der Wahrnehmung der Franzosen als die „ruhige Kraft der Vernunft und Hüterin der Demokratie“ wahrgenommen worden wäre. So sind sie nur noch eine Art französische FDP, ab und zu als Mehrheitsbeschaffer zu gebrauchen und ansonsten auf dem Weg in die politische Bedeutungslosigkeit, wohin es ja auch bereits die Sozialistische Partei PS verschlagen hat.
Der weitestgehend von der Öffentlichkeit abgeschirmte Präsident gibt heute vormittag seiner Premierministerin und den Chefs der Parteien, mit denen er seine wackelige Mehrheit organisiert, eine Audienz. Die Chefs der Opposition sind natürlich nicht geladen. Gerüchteweise hat er am Abend vor, das Wort an seine Untertanen zu richten, was die ohnehin schon hochexplosive Atmosphäre noch weiter anheizen wird, denn es ist damit zu rechnen, dass Macron wie so oft die falschen Worte zum falschen Zeitpunkt findet.
In den kommenden Tagen werden sich Streiks und immer wieder punktuelle, durchaus gewalttätige Demonstrationen abwechseln und Frankreich rutscht immer tiefer in eine völlig überflüssige Gesellschaftskrise. Die Jadgszenen dieser Nacht in Frankreichs Städten verheißen nichts Gutes…
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