Was genau sind eigentlich die „europäischen Werte“?

Kaum eine Rede, in der ein Hinweis auf die „europäischen Werte“ fehlt, auf denen das politische Handeln auf unserem Kontinent basiert. Schade nur, dass diese Werte kaum noch beachtet werden.

Eine "Wertegemeinschaft", die ihre Werte vergessen hat? Foto: ESA/A.Gerst / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0 IGO

(KL) – Europa, so sagt man, ist eine Wertegemeinschaft. Das steht sogar in Artikel 2 des Lissabon-Vertrags, des aktuell gültigen Vertragswerks der Europäischen Union. Dort heißt es: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Im folgenden Artikel 3 wird noch ergänzt, dass es ebenfalls Ziel der EU ist, den Frieden, die Werte der Union und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. Das ist eine wunderbare Idee, die nur leider relativ wenig mit der Praxis zu tun hat.

Es gibt wohl keinen dieser „Werte“, der momentan nicht verletzt wird. Gerade in der Pandemie stellt man sich die Frage, warum es mit Europa nicht klappt. Zum einen verzichtete die EU darauf, pragmatische Lösungen einzurichten, wie die gemeinsame Nutzung und Verwaltung medizinischer Ressourcen und das einzige Thema, das die EU wirklich interessierte, nämlich der finanzielle Aspekt der Krise, ist auch ein mittleres Desaster. „Wir haben die Schwierigkeiten unterschätzt“, räumte Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen ein und da fragt man sich, was ihre 33.000 hoch bezahlten Beamten eigentlich machen. Keiner im Haus, der so etwas wie eine realistische Einschätzung der Lage abliefern konnte?

Die aktuelle Multikrise wäre eine großartige Gelegenheit, Europa neu zu erfinden. Eben als Wertegemeinschaft, die nicht nur mit Riesensummen einspringt, wenn es darum geht Banken zu retten, die sich mal wieder verspekuliert haben, sondern als Wertegemeinschaft, die im Interesse des Wohlergehens ihrer Bevölkerung agiert, wie es der Lissabon-Vertrag ja auch besagt. Doch die nationalen Egoismen, gepaart mit der Inflexibilität eines aufgeblasenen Beamtenapparats, der sich selbst durch sein eigenes Regelwerk lähmt, führen Europa ad absurdum. Doch ob es eine zielführende Strategie ist, permanent Öl ins Feuer der Europagegner zu gießen, ist zweifelhaft.

Dabei wäre es gar nicht so schwierig, Europa neu zu erfinden. Dazu würde es reichen, würde man die unsägliche Regel der Einstimmigkeit abschaffen und sich selbst darauf verpflichten, in allen Situation die „Werte“ einzuhalten, die man sich selbst auf die Fahne geschrieben hat. Doch seit geraumer Zeit und zu fast allen wichtigen Themen verletzt die EU eben diese Werte, zumeist zugunsten von Wirtschafts-Interessen.

Ausgerechnet die EU, Friedensnobelpreis-Trägerin und selbsternannter Hort der Demokratie, zeigt große Demokratiedefizite, die den Neonationalisten in fast allen europäischen Ländern in die Karten spielen.

Ja, die „europäischen Werte“ sind wichtig. Noch wichtiger wäre es allerdings, würde das institutionelle Europa endlich wieder damit beginnen, diese konsequent in ihrer eigenen Politik zur Anwendung zu bringen. Wenn die EU das hinbekommt, dann kann sie noch verhindern, von den Stürmen der Geschichte weggeweht zu werden.

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