Wie entsteht Radikalisierung? Ein Erklärungsansatz.

Im französischen Magazin „Telerama“ erklärt der Psychoanalytiker Fathi Benslama aus seiner Sicht, wie die islamistische Radikalisierung Jugendlicher in Europa abläuft.

Diese tristen Vorstädte wie in Saint-Denis bei Paris sind Brutstätten der Radikalisierung. Foto: KoS / Wikimedia Commons / PD

(KL) – Die Attentate von Paris und Brüssel und anderswo sind noch frisch in der kollektiven Wahrnehmung der Welt. In Frankreich herrscht immer noch der Ausnahmezustand, die Angst vor Terroranschlägen ist nach wie vor allgegenwärtig und immer noch rätseln die Experten, wie es zur Radikalisierung europäischer Jugendlicher kommen kann, denn diese beschränkt sich nicht nur auf einige wenige Terroristen, sondern auf zahlreiche Jugendliche, die sich in Europa auf den Weg machen, um sich in Syrien und anderen Ländern dem „Islamischen Staat“ anzuschließen. Obwohl dieser einen Verhaltenskodex hat, der europäischen Jugendlichen komplett zuwider laufen müsste. Um das Phänomen verständlich zu machen, hat Fathi Benslama den Begriff des „Über-Moslems“ geprägt.

Eine Frage beschäftigt den Psychoanalytiker Benslama besonders – woher kommt die extreme Opferbereitschaft dieser jungen Menschen, die entweder bei Selbstmordattentaten ihr eigenes Leben auslöschen oder sich im vollen Bewusstsein der tödlichen Gefahr den kämpfenden Truppen des „IS“ anschließen? Für sein Erklärungsmuster führt Benslama Zahlen an. 40 % der radikalisierten Jugendlichen in Frankreich sind Konvertiten, also junge Menschen, die den Islam als Glauben angenommen haben und eine deutlich radikalere Interpretation des Korans an den Tag legen als Nicht-Konvertiten. Dies liegt daran, dass die Konvertiten das unterschwellige Gefühl haben, sich als „bessere“ Moslems beweisen zu müssen, was Benslama zum Begriff des „Über-Moslems“ führt. Da mehr als zwei Drittel der radikalisierten Franzosen Jugendliche im Alter von 15 bis 24 Jahren sind, entsteht ein Bild, das nachdenklich macht.

Als „Beweis“, dass man als Konvertit einen wirklich radikalen Islam leben will, entwickeln viele dieser radikalisierten Jugendlichen eine Opferbereitschaft, die das Maß jeder Vernunft sprengt. Je mehr sich diese Jugendlichen in die Rolle des „Über-Moslems“ hinein steigern, desto grösser wird diese Opferbereitschaft, die bis zur Aufgabe des eigenen Lebens geht. Und hier gibt es natürlich enge und engste Zusammenhänge mit anderen gesellschaftlichen Phänomenen, angefangen bei der Trostlosigkeit der ghetto-ähnlichen Vorstädte in Frankreich bis hin zur sehr hohen Jugendarbeitslosigkeit, die in Frankreich bei rund 25 % liegt. Dies ergibt eine explosive Mischung, denn die perspektivlosen Jugendlichen, die oft aus der zweiten und mittlerweile dritten Einwanderungs-Generation stammen, sind sehr empfänglich für die Versprechen der Hassprediger, die diesen Jugendlichen einen Weg aufzeigen, auf dem sie Anerkennung, eine wichtige Funktion und letztlich auch Abenteuer erleben können. Dass es sich dabei um einen Irrweg handelt, erkennen diese Jugendlichen meist erst dann, wenn es zu spät ist.

„Bin ich muslemisch genug?“, lautet oft die ängstliche Frage junger Konvertiten, die auf der Suche nach Anerkennung in der Gesellschaft sind. Und genau diese Fragestellung machen sich die Seelenfänger der Islamisten zunutze. Langsam, aber sicher, werden diese Jugendlichen darauf geschult, durch ein radikales Verhalten zu beweisen, dass sie „gute“ Moslems sind – von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt, sich auf den Weg zu machen, um für eine vermeintlich „gute“ Sache zu kämpfen.

Die Lebensläufe der in Europa aufgewachsenen Terroristen von Paris und Brüssel ähneln sich. Zumeist handelt es sich um bereits früh gescheiterte Lebenswege, Schulabbrüche, frühes kleinkriminelles Verhalten, Drogen und Alkohol, Ablehnung des von den Eltern gelebten „friedlichen Islams“ – und irgendwo auf diesem angebrochenen Lebensweg erfolgt dann eine Begegnung mit einem radikalen Imam, häufig sogar in den Gefängnissen, in denen diese Jugendlichen ihre ersten Hafterfahrungen machen. Aus der vermeintlichen Schande des Versagens wird die Perspektive des Heldentums als „Über-Moslem“ – für viele perspektivlose Jugendliche ein Weg, „etwas aus seinem Leben zu machen“.

Um das Phänomen des Terrorismus und der Radikalisierung europäischer Jugendlicher zu bekämpfen, gibt es nicht viele verschiedene Wege. Die Antwort auf die Frage nach der Radikalisierung liegt in den Vorstädten der Metropolen und großen Städte Europas. Hier muss man ansetzen und die Lebensbedingungen der Menschen nachhaltig verbessern, denn wenn die Ursachen der Radikalisierung junger Menschen nicht bekämpft werden, dann nützt auch das Arbeiten an den Symptomen wenig. Insofern erfordert der Weg aus der Radikalisierung heraus gesellschaftliche Anstrengungen auf allen Ebenen – von der Wirtschaft über die Politik bis zur Zivilgesellschaft. Denn wenn Jugendliche eine echte Lebensperspektive haben, dann entfällt für die der Grund, nach dem Status des „Über-Moslems“ zu streben.

Diesen Anstrengungen steht allerdings eines im Weg – der steigende Fremdenhass und der Erfolg der Rechtsextremen überall in Europa. Denn das Reparieren der Fehler der letzten Jahrzehnte, in denen man Einwanderer fast systematisch in Ghettos abschob, wird viele Jahre dauern. Ob die Zeit für einen solchen gesellschaftlichen Wandel ausreicht?

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