Wir sind die 35 Prozent: Occupy the theatre

Seit gestern sind Veranstaltungsorte in Frankreich wieder geöffnet. Ein gutes Drittel der Zuschauerplätze in Kinos, Konzertsälen und Theatern dürfen nach der neuen Regelung besetzt werden – immerhin, ein Anfang wird gemacht.

Ist es nun gleich eine nationale Aufgabe nun wieder ins Theater zu gehen? Kunst mag die Welt nicht retten, es genügt ja schon, wenn sie mich und dich ein wenig auf andere Gedanken bringt. Foto: Claude Truong-Ngoc / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 3.0

(Michael Magercord) – Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, in diesem eher eine Regierungsvorgabe. Nun also werden die Kulturveranstaltungen wieder vor Zuschauern vollzogen, bis zu 35 Prozent darf ein Saal besetzt sein. In Straßburg geht es schon heute wieder im PMC mit der Philharmonie los, und morgen dann in der Rheinoper mit der konzertanten Aufführung von Händels „Alcina“.

Eine Zauberin macht also den Anfang im wunderschönen Haus am Place Broglie: Alcina, die auf ihrer Insel haust und alle, die sie betreten, in Fauna oder Flora verwandelt – eine „Zauberoper“ voller übernatürlichen Erscheinungen und magischer Verwandlungen, die ihr Publikum zu ihrer Entstehungszeit in die Illusion versetzen sollte, mitten in einer fremden Welt zu sein. Und heute? Am Ende wird Alcina ihre Zauberkraft verlieren, die Insel ist befreit, die fremde Welt aufgelöst und alle Tiere und Bäume werden wieder zu Menschen. Sie bekommen ihr Leben zurück und werden in die Normalität entlassen – na, wenn das mal keine Allegorie auf das Ende der Pandemie ist…

Im London des Jahres 1735 wurde das opulente Werk mit vielen Arien und Tanzeinlagen zunächst ein Misserfolg. Das lag aber nicht an der Musik, sondern lediglich an der modernen Inszenierung. Die schöne Tänzerin Marie Sallé trat nämlich in plumpen Männerkleidern auf – und wer wollte so etwas damals schon sehen? In heutigen Zeiten dürfte solch ein Kriterium natürlich keine Rolle mehr spielen für das Wohl und Wehe der darstellenden Kunst, obwohl die Modernität – oder besser: ihre vermeintliche Modernität – immer noch für Kontroversen sorgen kann. Aber jetzt, im Frühling des Jahres 2021, steht das alles noch nicht zur Debatte, denn wir tasten uns erst einmal nur vorsichtig wieder an die Opulenz der Kunst heran. Diese „Alcina“ wird als gekürzte konzertante Fassung erklingen, der phantastische Gesang, dargeboten von fünf Sängerinnen und zwei Sängern, und die zauberhafte Musik des Mülhausener Symphonieorchesters geben uns einen ersten, wenn auch sogleich hochklassigen Vorgeschmack auf das Kommende.

Und ja, da wird noch was kommen! Die neue Saison 21/22 bietet wieder ein Programm, dass in bester Straßburger Tradition eine sehr große Spannbreite der Genres abbildet – von einer modernen Erzählung des alten Märchens „Schneekönigin“ bis zum Musical-Klassiker „West Side Story“. Dazu eine Oper von Verdi über religiösen Fundamentalismus – christlichen wohlgemerkt –, die im 19. Jahrhundert so provokant war, dass sie kaum gespielt wurde und erst jetzt – nach 172 Jahren – ihre Erstaufführung in Frankreich erleben wird.

Im Advent wird’s mit „Carmen“ altbekannt, im neuen Jahr hingegen avantgarde. „Die Vögel“ des Berliners Werner Braunfels aus den 1920er Jahren stellt den Operndirektor der Rheinoper Alain Perroux vor eine in Coronazeiten eigentlich unvorstellbare Aufgabe: Wie wird er den Premierensaal für bloß füllen können? Denn als das Stück vor Jahren in Genf lief, kamen zur Premiere des doch weithin unbekannten Meisterwerkes kaum Zuschauer, am Ende der Saison aber, als die Mundpropaganda ihre Wirkung gezeitigt hatte, waren keine Karten mehr zu haben.

Mit Mozarts „Così fan tutte“ dürfte sich das Problem nicht stellen. Die Inszenierung von David Hermann war eigentlich für das erste Corona-Frühjahr geplant, sie wird nun im April 2022 nachgeholt. Zuvor steht noch das Festival Arsmondo an, das dann der, wie es ausdrücklich im Titel heißt, „Kultur der Zigeuner“ gewidmet ist, also jener der Roma, Sinti und der vielen anderen Volksgruppen in Europa, dem Nahen Osten und Indien. Zwei Kurzopern stehen auf seinem Programm, eine aus Spanien von Manuel de Falla und eine aus Mähren von Leoš Janáček.

Die Opernsaison 21/22 steht unter dem Motto „Es war einmal“, und mal sehen, ob wir in einem guten Jahr mit diesem Satz auf sie zurückblicken können – alles wieder normal eben. Aber wird das neue „Normal“ einfach das alte sein? Und wäre das überhaupt wünschenswert? Ganz „normal“ bleibt es ja eigentlich nie, sobald wir uns der darstellenden Kultur aussetzen. Und vielleicht kann uns nun, wo alles wieder nach „Normalität“ giert, gerade die Kultur daran erinnern, dass es gar kein “Normal“ gibt.

Die Kultur muss – wie immer schon – die Fragen stellen, die im wiedergewonnenen Trubel unterzugehen drohen: Haben wir die Zeit des Stillstandes eigentlich gut genutzt? Beklagt hatten wir uns schon zuvor über alles Mögliche: die Überspanntheit, die maßlose Produktionsmaschinerie, den Druck des Alltags, die Ungleichheiten – aber diese Gelegenheit, daran etwas grundlegend zu ändern, ist nun Geschichte. Ja, ganz zu Anfang des erzwungenen Stillstandes gab es noch Debatten darüber, was sich alles ändern müsse, doch die verstummten ziemlich schnell bei dem Bemühen, doch wieder den altbekannten Zustand über die Krise zu retten. Vielleicht werden wir noch einmal nostalgisch auf diese Zeiten zurückschauen, eben weil wir uns als unfähig erweisen hatten, ihren innewohnenden Zauber zu erkennen und zunutze zu machen.

Aber Gemach: Wir haben doch die Kunst! Und mit ihr eine Methode, mit deren Hilfe wir gerade in ach so normalen Zeiten aus der Normalität fallen dürfen: in eine Muße oder in die Phantasie, in den freiwilligen Stillstand oder umgekehrt in einen geistigen Unruhezustand, der uns aus sperrigen Denkroutinen werfen kann – und das werden wir vermutlich jetzt, wo das Zauberwort „normal“ heißt, wieder nötiger haben, als uns lieb sein wird…

OPS – Philharmonie Straßburg

Heute und morgen das Konzert „Hymnen des Lebens“ – Greenwood, Mozart, Sibelius

Und eine Woche darauf bereits der zweite Zyklus:

27. und 28. Mai – das 2. Klavierkonzert von Rachmaninov und die 9. Symphonie von Schostakowitsch.
Beginn im PMC jeweils um 18.30 Uhr

Karten telefonisch unter 0033-(0)3.68.98.68.15
Bei Überlastung die eigene Nummer unter dieser E-Mail hinterlassen: orchestrephilharmonique@strasbourg.eu

Radio Classique wird das erste Konzert am 13. Juni, Accent 4 am 23. Juni ausstrahlen.
Eine Aufzeichnung des zweiten Konzerts läuft bereits am Freitag, 28. Mai um 20 Uhr bei medici.tv und bleibt dort für einen Monat abrufbar.

ALCINA – konzertante Aufführung der Oper von Händel
ab FR 21. Mai um 18.30 Uhr in Rheinoper Straßburg und Mülhausen

Weiter sind in dieser Spielzeit noch geplant:

Liederabend mit Matthias Goerne am 28. Mai um 19 Uhr
und als Saisonabschluss ab FR 18. Juni: Madame Butterfly von G. Puccini
Karten und Infos Rheinoper: www.operanationaldurhin.eu

Eine Saisonvorschau des Direktors und Ballettchefs (auf Französisch) findet sich im YouTube-Kanal der Rheinoper – und zwar direkt aus dem Gewächshaus des botanischen Gartens… oder etwa der Zauberinsel der Alcina?

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