Corona – na und? Eine Meinung zur Meinung – Teil 2

Sind wir mit dem Gröbsten durch? Steht uns eine zweite Welle ins Haus? Egal, es ist höchste Zeit, wieder Worte zu finden. Wird nun alles anders? Nur, wenn man darüber redet. Aber wie? In dem man Fragen stellt – und die dümmsten finden Sie in loser Folge hier.

Welche Farbe hat das Virus?-Nun in einem konträren Pink... Foto: HFCM Communicatie / Wikimedia Commons / CC-BY-SA 4.0int.

(Michael Magercord) – Habe ich nicht recht? Was für eine dumme Frage. Wie dumm sie schon immer war, haben wir gestern im ersten Teil dieser Betrachtung schon erahnen können, als wir erfuhren, dass Wirklichkeit letztlich auch nur eine Meinung ist. Und jetzt erinnert uns das Coronavirus noch einmal mit der ganzen Macht der Natur daran, dass die tatsächliche Wirklichkeit unseren Vorstellungen von Wirklichkeit Grenzen setzt.

Doch gleichzeitig ist die Schwere des Problems mit Corona eben doch auch eine kulturell erzeugte: durch Mobilität und Vernetzung, aber auch durch die wirtschaftlichen Ansprüche und ideellen Rechte eines jeden. In der ideellen Welt sind wir vom Äußeren unabhängig, können die Ansprüche immer weiter nach oben schrauben und die Rechte ausweiten, aber in der wirklichen Welt ist eben nicht alles lösbar, und die sich bietenden Lösungen entsprechen nicht unbedingt dem Ideal. Kurz: Am Virus scheitert die Freiheit der Idee, es hat uns in die menschliche Tragik zurückkatapultiert – und zwar ein jeden in die seine.

Das Dilemma der Demokratie ist nun, dass sie zwar den Rahmen des zivilisierten Ausgleichs im Meinungsstreit zwischen all den tragisch Gescheiteren bildet, ihn aber nicht gleich mitliefert. Meinungen werden geäußert, diskutiert, angenommen, verworfen oder gleich für Unfug erklärt. Und aus dem ganzen Meinungskonvolut wird irgendwann irgendein Sugorrat zum Allgemeingut und taugt schließlich zur politischen Handlungsanweisung. Als Individuum doch einmal recht zu haben, ist in diesen losen Strukturen eine komplexe Herausforderung, zu komplex, um in der Gemengelage aus universellen Rechten, individuellen Ansprüchen und ideellen Weltordnungen bewältigt werden zu können. Der Versuch wird natürlich trotzdem unentwegt unternommen, und um nachzuvollziehen, wie sich trotzdem eine eigene Meinung entwickelt, genügt es, sich selbst zum Beispiel zu nehmen.

Ich denke, also… – Irgendwas passiert oder steht an, wozu ich mir dann meinen Teil denke. Ausgehend davon, wie ich aufgewachsen bin oder in welchen Kreisen verkehre, empöre ich mich, und schon steht sie da: meine erste Meinung. Dann sagt irgendwer was anderes, und ich denke, so könnte man es vielleicht auch… dann aber siegt wieder die geprägte Überzeugung, unerschütterlich, also raus damit, auf dass die Welt weiß, was ich zu sagen habe! Denn die Welt geht in den Abgrund, wenn sie sich nicht nach mir richtet… Oder sollte man dann nicht sogar hoffen, man habe besser nicht recht… Kurz: Soweit also alles normal und behielte ich meinen Senf für mich, wäre mein hilfloses Schwanken und gleichsames Klammern an den letzten Resten fester Ideale quasi ein einziger, in sich logischer Akt und somit kein Problem für den Rest der Menschheit. Doch der menschlichen Tragik lässt sich nicht entkommen, sobald all die Meinungen in den unterschiedlichsten Stadien ihrer Entwicklung aufeinandertreffen.

Wie schafft man es aber nun, trotzdem halbwegs zivilisiert zu streiten? Vielleicht wäre ein Anfang gemacht, wenn man davon ausgeht, dass die verquere Meinung des Gegenübers auch nur ein Ausdruck seines momentanen Schwankungsbereiches ist. Könnten ja sein, dass er sich nur an seinem Quatsch dermaßen festklammert, weil er eigentlich kurz vorm Umfallen steht und tief verunsichert von der Wirklichkeit ist, die so gar nicht seiner Vorstellung von ihr entspricht? Ach, wären sich doch die Rädelsführer aller Sorte ihrer Tragik bewusst, würden wir uns vielleicht noch auf eine gemeinsame Vorstellung der Wirklichkeit gütlich und ohne allzu wirre esoterische Ausschläge einigen können… Sind sie sich aber nicht, und so bleibt uns nicht anderes übrig, als die freie Meinungsäußerung und ihre therapeutische Funktion als das höchste Gut der Demokratie auszuhalten.

Zurück zur Natur – Will man nun über diesen Wirrwarr hinweg wenigstens die hehrsten aller Werte in die neue Wirklichkeit mit und nach Corona, in der die Natur eine neue Rolle einnehmen wird, hinüberretten, muss man mit dem Rechthaben besonders behutsam umgehen und sich die unauflösliche Tragik des modernen Humanismus und seine neueren Spielarten vom Feminismus bis zur politischen Korrektheit immer sogleich mitdenken. Moderne Werte widersprechen sich nun einmal, will man das eine, Egalitarismus oder Laizismus etwa, gerät man in Konflikt mit dem anderen, Feminismus oder Religionsfreiheit. Weniger an Unerbittlichkeit an so manchen Fronten wäre nicht nur ehrlicher, sie eröffnete auch den Gegnern einen würdevollen Rückzug aus ihrer eigenen Unerbittlichkeit.

Dass der Humanismus überhaupt dermaßen in die Defensive geraten konnte, liegt nicht zuletzt an ihm selbst. Müssen denn alle Menschen wirklich nett und lieb sein, ihren Egoismus im Griff haben und solidarisch mit allem und jedem sein? Müssen wir alle erst ganz anders werden, um dem Humanismus zu genügen? Einfach zu sehen, wie wir es trotzdem miteinander aushalten und uns gegenseitig ertragen, ist schon schwer genug. Eine etwas entspanntere Sicht auf die Demokratie könnte zwar nicht dafür sorgen, dass alle immer Recht bekommen, aber immerhin dafür, dass alle so weit zu Worte kommen und dann mit dem Ergebnis der Debatte halbwegs leben können – und zwar allein deshalb, weil diese Debatte auch den nicht ganz so astreinen Alltagsbeiträgen als Ausdruck der Vorstellung von Wirklichkeit eine Berechtigung einräumt. Nur diese Akzeptanz entspräche schließlich dem tragischen Wesen einer Menschengemeinschaft und vermag zu etwas gesellschaftlicher Dauerhaftigkeit beitragen. Höchste Zeit abzurüsten, umso mehr, als mit der Entwicklung zur totalen Digitaldemokratie die echte Herausforderung für den zivilisierten Meinungsaustausch noch bevorsteht.

Rohe Gewalt – Es bot sich übrigens schon einmal eine – zugegeben mehr oder weniger gute – Gelegenheit, sich Gedanken um den Wert der Meinungsfreiheit zu machen. Nach den islamistischen Terroranschlägen 2015 wurde versäumt, beides zugleich zu debattieren: die Rolle der Gewalt im Islam und der Religion, und jene Form der Ausübung von Meinungsfreiheit, die keine Rücksicht auf die Empfindungen Dritter nimmt, seien es nun persönliche oder religiöse. Weder waren die Karikaturen wirklich notwendig, noch darf sich eine Religion anmaßen, darüber zu urteilen, was geht und was nicht. Beide Seiten hätten damals in Anbetracht des Grauens die Chance gehabt, gegenseitig ihren Absolutheitsanspruch zu relativieren. Stattdessen zogen sich beide Seiten in ihre Schneckenhäuser zurück: Religion und Islam hätten mit dem Terror nichts zu tun, entzog sich die eine Seite der Debatte; die Meinungsfreiheit sei immer das höhere Gut, die andere. Beide Positionen haben uns als Gesellschaft, die es irgendwie miteinander aushalten muss, keinen Deut weitergebracht und die Folgen zeitigen sich jetzt, nicht zuletzt hier, im Internet.

Aber eine Debatte kommt eben ohne willige Debattierer nicht zustande. Stattdessen prallen nun verfestigte und unfertige Meinung immer heftiger aufeinander. Wird die Demokratie jetzt, wo sich die Fronten zwischen Glauben und Wissen gleichsam verwischen wie verhärten, schließlich an ihrem höchsten Gut zugrunde gehen? Nein, denn das höchste Gut sind ja gottlob nicht all die Meinungen, sondern lediglich die Möglichkeit, sie äußern zu können: Meinungsfreiheit begründet sich in gesellschaftlichen Findungsphasen wie der unseren in ihrer Ventilfunktion. Jede noch so verquere Meinungsäußerung sollte man als Therapiemaßnahme für Tragikgeplagte begreifen. Auch diese, denn im Inneren ist ja ein jeder ein Repräsentant der allgemein herrschenden Orientierungslosigkeit. Die persönliche Tragik liegt nun darin, dass die schärfsten Rechthaber nichts von ihrer Tragik wissen oder wissen wollen.

Urschreie – Die gesellschaftliche Tragik wiederum liegt darin, dass sich diese Schrei-Therapiestunden heutzutage in der Öffentlichkeit vollziehen. Früher war der Stammtisch in einem dunklen Hinterzimmer, heute muss man dazu nicht einmal ins Darknet. Der Schritt zur Veröffentlichung ist sehr kurz geworden. Früher waren geschulte Redaktionen davor, jeden Unfug zu publizieren. Selbst wer ein Flugblatt verfasste, unterstand namentlich dem Presserecht. Und doch: Wenn es darum geht, wie wir es miteinander aushalten können, muss man manchmal auch seinen Unsinn in die Welt trällern dürfen, wie ich jetzt den meinen. Nur passierte das eben früher in geschützten Räumen, unter mehr oder minder amüsierten, aber immerhin tatsächlich anwesenden Hinterzimmerhockern. Das sorgte für eine gewisse Freiheit der Rede. Jetzt, wo jeder seinen Senf sofort öffentlich macht, hat sich der Meinende damit – und darin liegt die Tragik – im Grunde seiner Freiheit beraubt. Und damit auch jene aller anderen beschnitten. Denn nun wird jede Meinungsäußerung zu einem öffentlichen Statement und mit allen Konsequenzen sofort auf moralische die Goldwaage gelegt und als gewichtig befunden – und eben meist als zu gewichtig.

Politisch eher links zu verortende Linguisten sprechen bereits davon, dass politisch korrekte Sprache auch eine „Frage der Moral“ sei und meinen, dass moraline Sprachregelungen die Meinungsfreiheit letztlich förderten. Ergänzend zur Meinungsfreiheit fordern sie eine „Meinungsverantwortung“. Nun ja, wie großartig es schon mit der seit vierzig Jahren propagierten „Verantwortung für die zukünftigen Generationen“ in der Umweltfrage geklappt hat, will ich jetzt nicht kommentieren, aber die Frage stellen, ob wir da nicht ein wenig zu viel von jedem Einzelnen verlangen? Wieder heißt die Botschaft: Du darfst nicht so bleiben, wie du bist. Wieder wird Druck erzeugt, der irgendwann zum Gegendruck wird und überlässt der politischen Rechten die wesentlich griffigere Botschaft: So wie du bist, bist du okay – also fast jedenfalls…

Ehrliche Haut – Wer ehrlich zu sich ist, der weiß um seine Vorurteile – rassistische, kulturelle, weltanschauliche, soziale – und gesteht sie anderen auch mal zu. Aber: es sind eben „nur“ Meinungen, mehr nicht. Im Glaubens- und Moralkrieg abzurüsten ist vielleicht nicht das Schlechteste, gerade jetzt mit der wissenschaftlichen Herausforderung durch Corona. Und ein erster Schritt wäre es, die gute alte Tugend hervorzukramen, die ein jeder wohl bei sich irgendwo tief im Innern noch vorfindet: Höflichkeit. Die funktioniert wie eine Kettenreaktion: Wer höflich behandelt wird, reagiert meist höflich und gibt sich dann gegenüber den Nächsten höflich und so weiter…

Einfach nur ein bisschen nett sein? Ich gebe zu, nicht einmal das fällt immer leicht – und ich gestehe: Nach all diesen Ausführungen bin ich armer Tor so klug als wie zuvor. Man könnte all das hier Gesagte ja auch so zusammenfassen: Das größte Problem der Demokratie bin ich! Ich, dessen Leben sich nur teilweise in der Realität abspielt und der zunächst an sich glauben muss, um im turbulenten Meinungswirrwarr einmal recht zu haben. In diesen Momenten – wie jetzt – begebe ich mich in die Bütt, übernehme die tragende Rolle in der Dauertragödie namens Demokratie und posaune meine Meinung heraus: Tätä, Tätä, Tätä!

Und was gäbe es nicht alles für wunderbare Streitpunkte, wenn man aufhörte über Unbestreitbares zu diskutieren: etwa, jene, über die ich mich hier schon mal ausgelassen habe: Braucht es jetzt wegen Corona wirklich Staatsknete für die Lufthansa oder Schalke 04? Wieso Unmengen Geld in überkommene Strukturen stopfen und nicht direkt in die Menschen? Kein Mensch darf auf Essenstafel Niveau fallen! Was soll dann da jetzt noch diese scheinheilige Respektrente, nein, her mit einer vernünftigen Grundrente für alle!

Streiten, aber richtig – Also los, hinauf auf die Bühne, her mit den Argumenten! Haut sie euch um die Ohren! Aber bitte schön mit Haltung diskutieren und wie in jeder gelungenen Therapie die Dinge in letzter Konsequenz klar benennen: Wenn ich keine Coronabeschränkungen mehr will, dann bitte auch sagen, dass mir unsere Alten piepeschnurz sind. Oder wenn ich alle Beladenen dieser Welt aufnehmen möchte, muss ich auch eingestehen, dass ein Sozialstaat, soll seine Rolle ausfüllen, Grenzen eben doch bräuchte. Ja, das kann noch heiter werden oben auf der Bühne, aber immer daran denken: In meiner Meinung offenbart sich – ob ich will oder nicht – die ganze Tragik der Menschheit!

Als Zuschauer hoffe ich allerdings trotzdem, es möge da oben schon bald wieder etwas langweiliger zugehen. Bleibt nämlich so oder so immer die letzte, ewig offene Frage: Woran könnte ich merken, dass jetzt, in diesem Moment der Zufall eingetreten wäre und ich vielleicht doch einmal recht hätte?

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