Pazifist in der 1. Person Singular – Teil 5: Augen zu bei der Wortwahl

Seit Beginn des offenen Angriffskrieges Russlands hadern die Mittelosteuropäer mit dem zögerlichen Westen: Warum springt ihr den Ukrainern nicht ohne Wenn und Aber bei? Mein Freund Igor aus Prag hatte in seinem Blog auf der Website von „Respekt“, dem wichtigsten Nachrichtenmagazin in Tschechien, versucht, es seinen Lesern zu erklären.

Diktatoren als Schachfiguren – Im beeindruckenden Museum für den slowakischen Aufstand gegen die deutschen Besatzer am Ende des Zweiten Weltkriegs in Igors Heimatstadt Banska Bystrica ist ein Schachspiel aus ausgestellt, heimlich angefertigt von Ghettobewohnern: Hitler gegen Stalin. Und wer sind auf den Schlachtfeldern die Spieler und wer die Figuren? Foto: © Michael Magercord

(Michael Magercord) – Danke Igor! Dafür, dass Du uns in Deinem jüngsten Artikel an bessere Zeiten erinnert hast. An Zeiten nämlich, in denen man sich in seiner Gemeinschaft wohlfühlt, weil man meint, ihre kollektive Vorstellung von einer gelungenen Zukunft weitgehend zu teilen. In solchen Zeiten wähnt man sich nicht nur eins mit seinen Mitmenschen, sondern auch eins mit sich selbst. Dann schlägt nur ein Herz in der Brust, für Unstimmigkeiten findet sich in mir drin einfach kein Gegenspieler zur äußeren Welt. Doch solche Momente der Deckungsgleichheit von persönlichen und allgemeinen Vorstellungen – das lehrt uns unsere gemeinsam erlebte Geschichte der Enttäuschung nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – währen nie lange. Sie bleiben immer nur kurze Ausnahmezustände. Unsere gemeinsam erlebte Geschichte hat uns zwar auch gelehrt, dass nicht nur so schreckliche Ausnahmezustände, wie sie nun in der Ukraine herrschen, für das Kollektivempfinden sorgen können. Aber wenn diese gemeinschaftsstiftenden Momente weniger herausfordernd sind als ein Krieg, und sich in ihrer Folge mir und meinen Mitmenschen weit mehr Felder der persönlichen Entfaltung bieten als Schlachtfelder, dann stellt sich der Zwiespalt mit der Außenwelt schnell wieder ein: Die eigenen Visionen reduzieren ihre Reichweite auf mich selbst und die eingenommene Position gerät ins Wanken. Oft glaubt man, sogleich wieder ins historische Abseits geraten zu sein. Und dann? Dann taucht die innere Stimme eben wieder auf, und mit ihr diese Nervensäge, die einfach nicht wahrhaben will, dass die neue Lage eine sei, in die man sich jetzt zu fügen habe und sonst nichts.

So ging es Dir, lieber Igor, als sich ziemlich bald nach der Samtenen Revolution Deine Landsleute in der Tschechoslowakei auf die Anschaffung von neuen Autos konzentrierten, und so geht es mir, seit in meinem Land vor über bald eineinhalb Jahren eine Zeitenwende ausgerufen wurde. Eigentlich sollten wir in unserer Lage auf unsere innere Stimme gar nicht mehr hören. Doch das will mir nicht gelingen, denn der Pazifist in mir gibt einfach keine Ruhe. Deshalb werde ich nun doch noch einen letzten Versuch unternehmen zu erklären, was da mit mir los ist. Und wer weiß, vielleicht lohnt sich für den ein oder anderen, dem es ähnlich ergeht, dabei zu sein, wenn sich da einer abmüht, seiner inneren Existenz selbst in diesen Zeiten einen äußeren Sinn zu verleihen. Also bitte:

Wie erklärt man denen, die sich seit dem 24. Februar 2022 auf dem guten alten Sofa der menschlichen Illusionen breit gemacht haben und von dort in aufrechter Haltung zum Kampf für unsere Werte aufrufen, dass sie mit ihren unerschütterlichen Diskursen über Freiheit und Gerechtigkeit eine der seltenen Chancen vertun, die sich nur in solchen Ausnahmezuständen bieten? Denn verhindern sie nicht ausgerechnet mit diesen hehren Diskursen das tiefe Verstehen für die Mechanik des menschlichen Illusionismus? Und wie rechtfertigt dann jemand, der einst ein Stammgast auf dem ach so bequemen Sofa war und jetzt zu kaum mehr in der Lage ist, als bestenfalls wieder eine halbwegs gefestigte Haltung für sich selbst zurechtzulegen, dass es nun genau darum gehen muss: nämlich in diesem Ausnahmezustand eine Position zu finden, die der eigenen Lebenswelt tatsächlich entspricht und nur ihr gerecht zu werden hat? Das erklärt man am besten, indem der Erklärende an sich selbst vorführt, wie schnell man von seiner inneren Stimme in eine Grenzsituation hineingezogen werden kann, wenn dieser innere Diskurs plötzlich mit Menschen aus Fleisch und Blut geführt wird.

Schau mir in die Augen, Kleiner – Ich vernahm die Botschaft aus ihrem Blick: Halt du bloß dein Maul. Die ukrainische Menschenrechtsanwältin Oleksandra Mawijtschuk hatte gerade stellvertretend für ihre Landsleute den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments entgegengenommen. Gewidmet war die Auszeichnung dem „ukrainischen Volk“, im Plenarsaal erschien Präsident Selenskyj auf zwei großen Bildschirmen, erbat eine Schweigeminute für die Opfer, mahnte Waffenhilfe an und bedankte sich für die moralische Unterstützung bei den Abgeordneten. Im Saal nahmen schließlich drei Abgesandte des zuvor in den Reden der Fraktionschefs als „mutig“ titulierten Volkes unter stehender Ovation die Urkunde aus den Händen der Parlamentspräsidentin entgegen. Nun erfolgte noch die Pressekonferenz, und da stand die Juristin und fixierte die Journalisten mit ihren blauen Augen, und – ich wurde das Gefühl nicht los – ganz besonders mich. Ahnte sie, dass ich gerade mit meinem inneren Pazifisten darum rang, ob ich ihr seine Frage wirklich stellen sollte?

Die Frage des Pazifisten in der 1. Person Singular unterschied sich deutlich von den Fragen der Kollegen im Pressesaal. Deren Fragen nach den Bedürfnissen und Wünschen des mutigen Volkes ließen sich mit einer Liste von immer größeren Waffensystemen klar beantworten, liefere der Westen doch bislang – so die nachgeschobene Erklärung – immer nur solche Waffen, mit denen die Ukraine zwar nicht verlieren, aber auch nicht gewinnen könne. Mein Pazifist bedrängte mich, an diese unmissverständliche Klage der Ukrainer anzuknüpfen: Ich sollte nämlich den Spieß umdrehen und darauf verweisen, dass es genau das – keine Niederlage, aber auch keinen Sieg – ist, was der Westen will. Und nicht nur der, denn es gibt rund um den Globus zu viele Profiteure des derzeitigen Ausnahmezustandes. Krieg nährt Krieg und so manchen anderen auch, einzig die Ausweitung des Krieges gilt es zu verhindern, denn über allem schwebt die nukleare Bedrohung. Doch solange Putin mit der Ukraine beschäftigt ist, kommt er – so das Kalkül – nicht auf den finalen dummen Gedanken. Und in dieser Gemengelage bedrängte mich mein Pazifist, die Ukrainer zu fragen: Wie weit wollte ihr denn dieses Spielchen noch mitmachen, bevor ihr euch vom Westen und den Beteuerungen seiner Spitzenpolitiker, euch im Kampf um unsere gemeinsamen europäischen Werte „what ever it takes“ beizustehen, verarscht fühlen werdet?

Ich würde mich natürlich nicht so drastisch ausdrücken wie mein ungeniert zynischer Pazifist. Mir war aber auch nicht danach zumute, es stubenreiner auszudrücken, wenn die Verwüstungen ganzer Landstriche und das Sterben ganzer Alterskohorten junger Männer der Preis sind, mit denen die feurigen Kampfesreden aus den warmen Parlamentssälen bezahlt werden. Aber die Höhe der Inflation scheint für diese Preisgestaltung kein Maßstab zu sein, denn wie heißt es doch so schön: Die Ukraine wird bestimmen, wie hoch der Gesamtpreis letztlich sein soll, und wenn die Ukrainer es zulassen – und die Russen natürlich auch –, dann werden dort unsere Werte eben bis zum letzten Mann verteidigt – aber bitte auch nur dort und mit dem lokalen Personal, müsste der Nachsatz lauten, der jedoch nur selten und wenn, bestens verklausuliert – wir sind keine Kriegspartei – ausgesprochen wird, was aber…

Halt! Was sich seinerzeit in meinem Kopf abspielte und mich schließlich davon abhielt, der Menschenrechtsaktivistin mit dem eindringlichen Blick die Frage meines Pazifisten vorzutragen, waren nicht solche polittalkshowhaften Debattenbeiträge. Auch nicht der kurz aufflackernde Gedanke, dass sich die Rechtfertigung der Blutopfer auf beiden Seiten im Grunde gleicht, ist doch ein guter Krieg für wahre Werte wieder führbar und der Opfertod im Felde sinnreicher als etwa bei einem Autounfall, wie Kriegsherr Putin den Müttern der Gefallenen unlängst versicherte. Nein, was mich davon abhielt, der Ukrainerin meine Frage nach dem Grad des Verarschungsgefühls zustellen, war viel direkter: Ich kam mir vor wie ein Schwein, mies und herzlos. Lassen mich denn die Greueltaten an den ukrainischen Zivilisten ungerührt? Sind mir die Verbrechen piepe, die das mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Center for Civil Liberties, das Oleksandra Mawijtschuk leitet, dokumentiert hat, um sie eines Tages vor ein Gericht bringen zu können? Scheidet mein allgemeines Gruseln vor einem Krieg nicht sauber genug zwischen Opfer und Täter? Oder schlimmer noch: Will ich einfach nur mein ach so zartes, postheroisches Seelchen retten? Jawohl, ich bin ein Schwein, das für seine armselige Gemütsruhe über Leichen geht!

Schweinebande – Na, wenn das so ist, befinde ich ja in bester Gesellschaft! Als Schwein darf ich mich wieder eins fühlen mit meiner Zeitenwendegemeinschaft. Gemütsberuhigt fläze ich mich in mein angestammtes Plätzchen auf dem schönen Sofa der Illusionen, denn zumindest darauf sind wir doch alle in der gleichen Position: Alles, was wir von dort aus der Wirklichkeit an Wirklichkeit beimessen, uns an Haltungen dazu zurechtlegen und an Parolen darüber von uns geben, bleibt blanke Theorie. Weder springt der Neobellizist umgehend auf, wirft sich an die Front und lenkt seinen Leopard 2 über dasselbe – Achtung: Militärjargon – panzergünstige Gelände, auf dem siebzig Jahre zuvor unsere Tiger gen Osten rollten. Noch wird der Altpazifist sogleich seine zweite Wange hinhalten müssen und sich selbst dem skrupellosen Aggressor zum Opfer darbringen. Zusammen sitzen wir unterm atomaren Schutzschild, das verhindert, es wirklich ernst meinen zu müssen. Gemeinsam überlassen wir es den Ukrainern, mit der Wirklichkeit fertig zu werden, und verpassen dabei die Chancen zur Selbsterkenntnis, die sich uns bieten, wenn wir uns einmal nicht beim Wort nehmen dürfen.

Also lasset nun alle Illusionen fahren, die imperiale Kriegsillusion, in deren Irrsinn uns Putin hineinzwingt, und unsere Vorkriegsillusion, als Raubbauwirtschafter je in Frieden gelebt zu haben, und fragt euch schonungslos, was wir da eigentlich treiben, wenn wir plötzlich schreckliche Dinge aussprechen, die wir vor kurzer Zeit nicht von uns zu denken gedacht hätten. Dabei vermeiden wir klugerweise jene Worte, die einen Absolutheitsanspruch einfordern und nur dazu führen, dass wir uns gedanklich bloß immer weiter im Kreise drehen. Sprechen wir also nicht von „Werten“ oder „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“, sondern fragen: Ob die Atombombe gottähnliche Züge trägt? Ob dem Denken in militärischen Kategorien eine selbsterfüllende Prophezeiung innewohnt? Ob Kriegsmaschinerien und Produktionsschleifen derselben Logik gehorchen? Ob die Menschen nicht doch nicht dazu verdammt sind, für immerdar autoaggressive Bösewichte zu bleiben? Natürlich drängen sich noch viele andere Fragen auf, die auf Antwort harren. Also nur zu und Fragen über Fragen stellen, aber Achtung: weder beim Fragen noch beim Antworten die drei Totschlagworte – siehe oben zwischen den Gänsefüßchen – benutzen! Wir wollen doch die vielleicht nur noch kurze Zeit, in der wir es nicht ernst meinen müssen, gut nutzen, um dem Overkill gedanklich vielleicht noch zuvorzukommen.

Das hätte eigentlich der letzte Teil dieser Betrachtung werden sollen, aber wer wollte den Overkill einfach so stehen lassen. Wenigstens einen kleinen Hinweis auf Antworten auf die irren Fragen unseres Pazifisten sind wir uns noch schuldig. Es werden also weitere Teile folgen, worin wir zwar die letzte Weisheit auch nicht parat haben, aber immerhin den lohnenden Versuch unternehmen, das Sinnen von Igor aus Prag, wieder mit etwas Optimismus auf das gemeinschaftliche Leben blicken zu können, aufzugreifen und einen Hinweis auf gesellschaftliche Wohlfühloasen ausmachen, die sich ausgerechnet vom Gefechtsstand aus beobachten lassen.

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