Europäische Gelder für die Mafia (11)

„Il sistema“ tut alles, um sich zu schützen. Zahlreiche Skandale um Korruption und Amtsmissbrauche erschüttern gerade Italien und die Machthaber wollen nun den rechtlichen Rahmen verändern.

Gerechtigkeit verweigert - da ist alles gesagt... Foto: Eurojournalist(e) / CC-BY 2.0

(Kai Littmann) – Am 6. September 2023 sollte das italienische Parlament eigentlich über ein Gesetz abstimmen, das eine Verkürzung der Verjährungsfristen von Prozessen vorsah, sowie Gesetzesänderungen zu Amts- und Machtmissbrauch und „externer Teilnahme an mafiösen Aktivitäten“ (einem nur in Italien existierenden Strafbestand) – um die Akteure von „il sistema“ zu schützen, also Politiker, Richter und Staatsanwälte und hochgestellte Persönlichkeiten. Die Idee war es, alle Verfahren gegen diese Personengruppen einstellen zu können, wenn ein solches Verfahren nach drei Jahren noch kein Urteil erfahren hätte. Angesichts der Tatsache, dass „il sistema“, diese ungute Zusammenarbeit zwischen Politik, Justizsystem, Freimaurerei, Staatsunternehmen und dem Organisierten Verbrechen in der Lage ist, Verfahren nach Belieben in die Länge zu ziehen, stellte dieses Gesetzesvorhaben für diese Personengruppen einen „Blankoscheck“ dar. Die Reaktionen in Italien, seitens der Opposition, von Verfassungs-Experten und einiger Medien war derart heftig, dass sich Giorgia Meloni gezwungen sah, die Abstimmung zu verschieben. Doch jetzt kommt „il sistema“ massiv zurück.

Das neue Projekt, mit dem sich „il sistema“ vor Strafverfolgung schützen will, ist noch schlimmer als der Gesetzesentwurf, der am 6. September hätte abgestimmt werden sollen. Nun wollen die Machthaber in Italien eine Regel einführen, nach der jedes Verfahren, für das nach zwei Jahren kein erstinstanzliches Urteil vorliegt, eingestellt wird und sollte in der zweiten Instanz, dem Appellationsgericht, nach einem weiteren Jahr kein Urteil vorliegen, kann das Verfahren ebenfalls eingestellt werden. Und das ist ein unglaublicher Skandal. Denn „il sistema“ verschleppt seit Jahrzehnten die Verfahren gegen Politiker, Richter und Staatsanwälte und hochgestellte Persönlichkeiten nach Belieben, damit sich diese im Sande verlaufen. Diese „Strategie“ funktioniert hervorragend, wie im in dieser Serie dargestellten Fall des Rosario Leo, dessen Verfahren seit 28 Jahren anhängig ist, ohne dass er jemals ein Urteil des Kassationsgerichts erhalten hätte. Der Versuch, heute diese kurze Verjährungsfrist einzuführen, bedeutet Straffreiheit für alle Akteure von „il sistema“ und gleichzeitig wird es für normale Bürgerinnen und Bürger praktisch unmöglich, Recht zu erhalten.

Die zahlreichen Korruptionsskandale, die momentan Italien erschüttern, haben „il sistema“ gezwungen, schnell zu handeln, um die vielen Verfahren gegen Richter und Staatsanwälte, Politiker und hochgestellte Persönlichkeiten einstellen zu können. In der Praxis können diese Personengruppen dann nicht mehr strafrechtlich belangt werden, während normale Bürger, die vor Gericht gegen solche Menschen klagen, keine Chance mehr haben, dass ihr Verfahren zu einem Ende kommt. An diesem Wochenende haben die italienischen Medien darüber berichtet, dass sich Justizminister Carlo Nordio mit der Opposition auf dieses Vorgehen geeinigt hat, was bedeutet, dass auch die „linken“ Politiker in Italien ebenso viele schräge Dossiers haben wie die aktuellen Machthaber, die sie gerne unter den Teppich kehren würden.

Wir haben Juristen befragt, ob dieses Vorgehen mit europäischem Recht vereinbar ist und die Antworten sind nicht einheitlich. Die einen sind der Ansicht, dass das italienische Vorgehen verfassungswidrig, inkompatibel mit den Lissabonner Verträgen und damit hinfällig ist, während andere die Ansicht vertreten, dass diese Frage nur Italien betrifft und das Vorgehen daher möglich sei. Während die rechtliche Würdigung also noch in der Schwebe ist, so ist es dennoch unglaublich, dass das italienische Justizsystem eine Zwei-Klassen-Justiz einrichten will, in der Kriminelle in Anzug und Krawatte straffrei bleiben, während den Bürgern der Zugang zu einem fairen Verfahren praktisch verwehrt bleibt. Zu diesem Fragenkomplex müssen nun die europäischen Instanzen aktiv werden, sei es nur, um Unternehmen aus anderen europäischen Ländern zu schützen, die in Italien aktiv sind und eventuell den Aktivitäten von „il sistema“ ausgesetzt sein können.

Was die Politik und die Justiz in Italien befürchten, ist der Zusammenbruch eines hochkriminellen Systems, dass allerdings so gut eingerichtet ist, dass man bereit ist, es zu schützen. Auch, wenn die Welt momentan mit anderen und drängenderen Themen beschäftigt ist, so kann es dennoch nicht angehen, dass Italien am Ende das organisierte Verbrechen legalisiert. Fortsetzung folgt.

Bereits in dieser Serie erschienen:

Artikel 0 – Präsentation der Serie
Artikel 1 – ENI – SNAM – Bonatti und die anderen…
Artikel 2 (Sondernummer) – Wenn die Kriminalität legalisiert wird…
Artikel 3 – Die Strukturen des organisierten Verbrechens in Italien
Artikel 4 – Die Infrastruktur der Gaspipelines in Italien
Artikel 5 – Die Justiz im Dienste des organisierten Verbrechens
Artikel 6 – Nicola Gratteri, ein Held der modernen Zeiten
Artikel 7 – Und was sagt die Europäische Kommission?
Artikel 8 – Die „Rosario Leo Files“
Artikel 9 – Europäische Gelder für die Mafia!

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