Serie (8) – Europäische Gelder für die Mafia?

Heute – Die „Rosario Leo Files“ oder Einblick in die Arbeitsweise von „il sistema“ in der Praxis. Ein Unternehmer kämpft gegen eine nicht funktionierende Justiz und zahlt einen hohen Preis dafür, dass er weiter aufrecht bleibt.

Rosario Leo. Foto: Franck Dautel / EJ / CC-BY 2.0

(Kai Littmann) – In den ersten sieben Artikeln dieser Serie haben wir die Gaspipeline-Projekte in Italien beschrieben, das italienische Justizsystem, die Funktionsweise der verschiedenen Gruppierungen des organisierten Verbrechens in Italien, wie haben die Reaktion der Europäischen Kommission veröffentlicht und nun ist es Zeit, von der Theorie zur Praxis zu kommen, indem wir die Mißstände in Wirtschaft, Justiz und Politik in Italien anhand eines konkreten Beispiels illustrieren – die „Rosario Leo Files“.

Rosario Leo, geboren 1959 in Ginosa in Süditalien, ist ein echter „Selfmademan“. Bereits während seines Studiums arbeitete er im Baunternehmen seines Vaters, und verbrachte seine Wochenenden auf den Baustellen, während sich seine Freunde in den Clubs amüsierten. Aber Rosario, ein unglaubliches Energiebündel, lernte schon sehr früh, wie man große Baustellen managt und schon bald konnte er seine eigenen Unternehmen gründen, die sich prächtig entwickelten.

1994, zusammen mit anderen Bauunternehmen, die hierfür temporäre Konsortien bildeten, deren Chef Rosario Leo wurde, zog er große Aufträge an Land. Diese temporären Konsortien erhielten diese Aufträge im Zusammenhang mit dem Bau großer Abschnitte der Gas-Pipeline TAP, einem sehr wichtigen Infrastruktur-Projekt für die Energieversorgung Italiens und eines großen Teils von Europa. Die Beauftragung dieser temporären Konsortien zum Bau dieser Abschnitte in Kalabrien, in Basilicata, in der Toskana, in Kampanien, also in ganz Italien, erfolgte durch das Unternehmen Bonatti s.p.a.. Angesichts der Tatsache, dass Bonatti s.p.a. eines der Generalunternehmen des Energiekonzerns SNAM s.p.a. war, der seinerseits vom siebtgrößten Energieriesen weltweit ENI s.p.a. mit der Durchführung dieses Projekts beauftragt worden war, winkte eine goldene Zukunft für diese Konsortien und Rosario Leo am Horizont. Natürlich sahen die Verträge mit Bonatti vor, dass alle involvierten Partner das Anti-Mafia-Gesetz (Legge 55/1990) einzuhalten hatten und dieses Gesetz sollte noch eine wichtige Rolle spielen. Doch war dies nicht der Beginn einer schönen wirtschaftlichen Erfolgsstory, sondern eines Albtraums, der bis heute andauert.

Die Arbeiten begannen und alles schien wie geplant zu laufen. Einziges Problem – der Generalunternehmer Bonatti s.p.a. bezahlte die Rechnungen der Konsortien nur teilweise. Dies betraf vor allem Zusatzarbeiten, die aufgrund nicht vorhersehbarer Schwierigkeiten anfielen, wie schlechtes Wetter oder geografische Probleme des Geländes, und die vertraglich Gegenstand zusätzlicher Zahlungen hätten sein müssen. Natürlich fielen die Kosten der Konsortien zu jedem Monatsbeginn an, wie Löhne der Arbeiter, Baumaschinen, Treibstoff und andere. Trotz der Mahnungen von Rosario Leo gegenüber Bonatti, kamen die Zahlungen nicht vollständig an und jedes Mal fand Bonatti weitere schwache Entschuldigungen, um die Zahlungen weiter aufzuschieben.

Im Januar 1996 stoppten die temporären Konsortien die Arbeiten aufgrund der nicht vollständig bezahlten Rechnungen und weil Bonatti keine belastbare Buchhaltung vorlegte, wozu das Generalunternehmen verpflichtet gewesen wäre. Dabei hatte Bonatti bereits die vereinbarten Summen von ihrem Auftraggeber erhalten, der SNAM s.p.a., die wiederum vom Projektleader, dem Energieriesen ENI s.p.a. bezahlt worden war. Dazu leitete Bonatti auch nicht die Entschädigungen der Versicherung an die temporären Konsortien weiter, die sie selbst von der Versicherung der SNAM für unvorhersehbare Probleme erhalten hatte. Später wurden dann die Verbindungen von Bonatti mit dem organisierten Verbrechen in anderen Skandalen durch ihren Mehrheitseigner (70 % der Aktien von Bonatti) Callisto Tanzi offensichtlich, der aufgrund des „Verschwindens“ von 14 Milliarden Euro und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

Natürlich wollten es die Konsortien und die betroffenen Unternehmen nicht dabei belassen und klagten vor mehreren zuständigen Gerichten. Von diesem Zeitpunkt an zeigte „il sistema“ seine ganze Macht, wobei man erkennt, dass das organisierte Verbrechen in Italien die höchsten Ebenen des Justizsystems und der Politik in Italien infiltriert hat.

Um es deutlich zu sagen, die nicht erfolgte vollständige Bezahlung der Baustellen der Konsortien lag nicht etwa an eventuellen Mängeln auf den Baustellen, ganz im Gegenteil. Die Gerichte des Justizdistrikts der Region Basilicata haben die fehlerfreie Ausführung der unglaublich komplexen Arbeiten bis zum Einstellen der Arbeiten bestätigt.

Seit 1996 werden die Akten zwischen den Gerichten und Instanzen des Justizsystems hin- und hergeschickt und landen immer wieder in Gerichten, an denen „wohlwollende“ Richter und Staatsanwälte arbeiteten, wo die Akten „verloren gingen“ und damit nichts „il sistema“ stören konnte, wurden sogar „wohlwollende“ Richter und Staatsanwälte an diejenigen Gerichte versetzt, von denen man wußte, dass die Akten demnächst dort ankommen würden.

Dies war der Moment, zu dem das Anti-Mafia-Gesetz (Legge 55/1990) hätte greifen müssen, denn dieses Gesetz sieht bei solchen Projekten vor, dass der jeweils übergeordnete Auftraggeber die Beträge zu zahlen hat, die sein Generalunternehmer nicht zahlt. In diesem Fall hätte also die SNAM anstelle von Bonatti für die Zahlungen einspringen müssen, was aber nie passierte.

Mehrere der Bauunternehmen in den Konsortien gaben im Laufe der Zeit auf und dies war offensichtlich das Ziel dieser vertraglichen und rechtlichen Farce, die auf die Pleite dieser Bauunternehmen abzielte, die niemals die vollständigen Gelder erhielten, auf die sie Anspruch hatten. Doch „il sistema“ hatte nicht mit der Hartnäckigkeit von Rosario Leo gerechnet, der in all diesen Jahren ein wasserdichtes Dossier zusammenstellte, das alle für diesen Skandal relevanten Dokumente und noch deutlich mehr enthält. Dieses Dossier ist so vollständig, dass wir heute diese Serie veröffentlichen können, da wir über sämtliche Beweise für alles verfügen, was in dieser Serie veröffentlicht wird.

Rosario Leo hat seinen Fall durch alle Instanzen des italienischen Rechtssystems getragen. Gerichte, Appellationsgericht, Kassationsgericht, dazu hat er seinen Fall dem Präsidenten der Republik Italien vorgelegt, verschiedenen Regierungschefs der letzten Jahre, dem Obersten Justizrat (Conseil Supérieur de la Magistrature, die mächtige Struktur, die unter anderem und unter Vorsitz des Präsidenten der Republik Italien über Nominierungen, Abberufungen und Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten entscheidet und damit die Macht hat, Richter und Staatsanwälte dort einzusetzen, wo „il sistema“ sie braucht), die Nationale Anti-Korruptions-Behörde (ANAC) wurde ebenso informiert wie die Nationale Anti-Mafia-Direktion (DNA), die Polizeibehörden und überall stieß Rosario Leo auf die Mauer des Schweigens, die typisch für „il sistema“ ist.

Heute ist das gesamte italienische Justizsystem auf dem Laufenden und hat die komplette Akte der „Rosario Leo Files“ erhalten, bis hin zum Präsidenten der Republik Italien Sergio Mattarella und der General-Staatsanwälte am Kassationsgericht Pasquale Ciccolo, Riccardo Fuzzio, Giovanni Salvi und Luigi Salvato, sowie das Gericht von Perugia, das für die Kontrolle der Verwaltungen in Rom (Politik, Richter und Staatsanwälte und Beamte) zuständig ist. Mehrere Minister hatten ebenfalls versprochen, sich um diesen Fall zu kümmern, doch niemand wurde aktiv. Alle diese Personen haben nicht nur ihre Aufgaben nicht erfüllt, sondern eindeutig gegen die Verfassung verstoßen. Schlimmer noch, heute versucht die Politik, die Gesetze zur Verjährung von Verfahren, Amtsmißbrauch und der externen Teilnahme an Aktivitäten krimineller Vereinigungen zu ändern, damit Fälle wie dieser einfach unter den Teppich gekehrt werden können. Sollte die Politik mit diesen Gesetzesänderungen durchkommen, würde das bedeuten, dass niemand für diese Vergehen belangt werden könnte.

Der Schaden für die temporären Konsortien in diesem Fall beläuft sich auf mehr als 50 Millionen Euro, doch darf man nicht die immateriellen Schäden außer Acht lassen. Anwaltskosten in fast 30 Jahren, die vielen Kosten während der Verfahren, aber auch das Zerbrechen von Familien, der Verlust der Gesundheit, der Verlust von florierenden Bauunternehmen und nicht erzielte Gewinne bis zum heutigen Tag. Andere Unternehmer in diesen Konsortien hatten nicht die Kraft von Rosario Leo – es kam zu Katastrophen wie Selbstmorden und anderen persönlichen Dramen.

Auf europäischer Ebene kann Rosario Leo immer noch nicht den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg anrufen, da er hierfür alle rechtlichen Instanzen in seinem Heimatland erschöpft haben muss. Doch vor mehr als sieben Jahren informierte die Generalstaatsanwaltschaft des Kassationsgerichts Rosario Leo in schlichten Worten, dass sein Verfahren eingestellt sei, was ihn bis heute daran hindert, da es hierzu kein Urteil gibt, sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu wenden.

Doch ein weiterer aktueller Skandal könnte den Fortgang der „Rosario Leo Files“ unterstützen – der Skandal um den ehemaligen Richter Luca Palamara und den ehemaligen externen Anwalt der ENI Piero Amara (von denen wir bereits berichtet hatten), die beide der Korruption überführt worden waren. Um eine Gefängnisstrafe zu vermeiden, haben die beiden damit begonnen, eine Liste hoher Richter, Staatsanwälte, Politiker und anderer Persönlichkeiten zu veröffentlichen, die Mitglieder von „il sistema“ und der Freimaurerloge „Ungheria“ sind. Letzte Woche konnten sich plötzlich beide an nichts mehr erinnern und die Strafen für beide wurden ebenso plötzlich drastisch reduziert. Doch das kommt zu spät. Von den 70 Namen auf dieser Liste wurden bereits 40 veröffentlicht und es besteht berechtigte Hoffnung, dass „il sistema“ doch implodiert. Angesichts der Tatsache, dass die Zusammenarbeit zwischen organisiertem Verbrechen, Politik und Justizsystem eine echte Plage für dieses wunderbare Land Italien ist, wäre das auch höchste Zeit.

Trotz dieser unglaublichen Geschichte hat sich Rosario Leo eine extrem positive Einstellung bewahrt. Der Mann, dessen Lebenswerk von „il sistema“ zerstört wurde, kämpft mit riesigem Mut weiter und bearbeitet diesen Fall mit der Professionalität eines Rechtsexperten und – er wird diesen Skandal bis zu seinem Ende bringen.

Die nächsten Schritte von Rosario Leo sind klar – sein Fall wird der Europäischen Staatsanwaltschaft vorgelegt werden, der Staatsanwaltschaft Brüssel, OLAF (der Elitepolizei, die gegen organisiertes Verbrechen und Korruption kämpft) und EUROJUST in Den Haag. Die Akteure von „il sistema“, deren Namen noch nicht veröffentlicht wurden, dürften sich heute nicht allzu wohl in ihrer Haut fühlen…

Nach sechs Monaten unserer Investigation können wir im nächsten Artikel das „?“ im Titel dieser Serie durch ein „!“ ersetzen… das sollten Sie sich nicht entgehen lassen!

Bereits in dieser Serie erschienen:

Artikel 0
Artikel 1
Artikel 2 (Sondernummer)
Artikel 3
Artikel 4
Artikel 5
Artikel 6
Artikel 7

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