Corona – geht noch was? Fragloses Europa

Sind wir mit dem Gröbsten durch? Befinden wir uns bereits in einer zweiten Welle? Egal, es ist höchste Zeit, wieder Worte zu finden. Wird nun alles anders? Nur, wenn man darüber redet. Aber wie? In dem man Fragen stellt – und die dümmsten finden Sie in loser Folge hier.

Welche Farbe hat das Virus? Europablau ohne Sternenhagel? Foto: HFCM Communicatie / CC-BY-SA 4.0int

(Michael Magercord) – Wozu, liebe Europäer, brauchen wir die EU? Für den Erhalt des Friedens auf dem von Kriegen doch so geschundenen Kontinent. Sehr gut, Michel, setzen. Dafür gibt es eine Eins und eine Fleißbiene ins Aufgabenheft der Geschichte. Doch nun diese Frage: Muss man denn dazu unbedingt heute noch so viel Geld ausgeben? Wie bitte, schon wieder meldet sich nur der Michel: Das ganze Geld ist es wert, weil wir Deutschen wegen der Exportorientierung unserer Industrie und Wirtschaft am meisten von der EU profitieren…

Wir wissen nicht, ob der deutsche Michel auch für diesen brav eingeübten Satz eine gute Note von den anderen Europäern bekommt, aber eines ist sicher: eine Fleißbiene würde er sich dafür ohne Hemmungen selbst ins Auftragsbuch der Wirtschafts- und Zollunion schreiben. Die habe ich mir als ihr Zahlmeister doch wohl redlich verdient! Ob aber dem selbsterklärten Musterschüler wenigstens der innere Widerspruch seiner beiden Aussagen von ganz allein auffällt: Einerseits immer schön die hohen, gemeinsamen Werte beschwören und einfordern, andererseits aber gleich den eigenen Vorteil der ganzen Veranstaltung immer mitbedenken.

Aber geschenkt, Michel, das machen ja letztlich alle so wie du. So läuft es in Europa eben: vorm Tafeln noch hehre Reden vom Ideal des Teilens und der Solidarität im Munde führen, aber nähren tun dann doch die dicken Brocken, die man sich schließlich aus dem Kuchen herausschneiden kann. Soweit also nur der ganz normale Widerspruch – oder wie wir letztes Mal sehen konnten: die ganz normale Tragik – in einem Bund von Gleichgesinnten mit doch ziemlich unterschiedlichen Interessen.

Wozu also die EU? – Das ließe sich, wenn man nun den inneren Widerspruch Europas gleich mitbedenkt, heute ganz einfach beantworten: für die 750 Milliarden des Corona-Hilfsprogramms von der Europäischen Kommission. Davon bekommt jeder etwas ab, der es braucht, teils als direkte Zahlung an die Regierungen, teils aber als Kredit, wofür die „Sparsamen Vier“ gesorgt haben. Ob man ihnen auch anderswo einmal dankbar sein wird? Vermutlich ja, nämlich spätestens dann, wenn es darum gehen wird, bei wem man Geld wieder hereinholt. Denn eines sind beides: Schulden von morgen. Wie die Rezepte zum Eintrieb der Schulden von gestern lauteten, lässt schon jetzt einen Schluss zu, wie es bald wieder in den einzelnen Staaten der EU kommen wird: Sozialleistungen einschränken, Renteneintrittsalter erhöhen, Leistungskatalog der Krankenkassen zusammenstreichen. Nur eines wird nicht passieren: das Geld dort abschöpfen, wo es – bienenfleißig – „arbeitet“, bei Aktien und Dividenden, den Gewinnen der Multis und Boni ihrer Manager, oder bei den aufgehäuften Vermögen – denn wer wollte sich schon mit dem Teufel anlegen? Um Gottes willen, dann lieber doch wieder die Banken retten!

Natürlich ist es für die politisch Verantwortlichen im Europäischen Parlament und der Kommission ein Leichtes, nach mehr Geld für „Europa“ zu rufen. Denn dort muss sich ja niemand Gedanken machen, wem man dieses Geld schließlich aus dem Kreuze leiern wird. EU-Institutionen dürfen die Wohltaten verteilen, die Mittel aufzutreiben oder anderswo einzusparen bleibt das – zweifelhafte – Privileg der Nationalstaaten. Und gerade der Export-Michel wollte das immer so haben. Jedenfalls bislang! Denn nun hat Michels oberster Finanzverwalter ganz undiskret den Charme einer „Schuldenunion“ entdeckt. Scholz heißt der und lobt die gemeinsame Schuldenaufnahme zur Coronafolgenbekämpfung als „Fortschritt“ auf dem Weg in eine politische Union. Schulden als Kit für Europa? Die Begründungen dazu siehe oben: Frieden und Export.

Klebemasse – Ob Schulden wirklich ein kraftvoller Kleister sind? Anfänglich galt das gemeinsame Wirtschaften als ausreichend für das Zusammenwachsen. Aus Gründen einer immer weiter auseinanderlaufenden Entwicklung in der immer größer werdenden EWG ersannen sich in den 1970er Jahren Bundeskanzler Schmidt und Präsident Giscard den „Ecu“, eine gemeinsame Verrechnungseinheit, die einen festgesteckten Rahmen vorgab, in dem die Landeswährungen flotieren durften. Dadurch blieben währungspolitische Anpassungen an wirtschaftliche Ungleichgewichte zwar noch möglich, allzu große Ausschläge ließ dieser Rahmen aber nicht mehr zu.

Das war vielleicht nicht das Schlechteste. Doch dann wollten Kohl und Mitterrand ein etwaiges Auseinanderfallen der EU mithilfe einer gemeinsamen Währung endgültig unmöglich machen. Und außerdem – auch wenn der produktionsbesessene Michel das nicht mehr so gerne hören will – stand seinerzeit seine DM kurz vor einer starken Aufwertung, was ja einmal dem Export seiner übermäßig produzierten Güter nicht gutgetan hätte, weil so etwas nämlich gleichzeitig die Importfähigkeit vieler Länder geschmälert. Mit dem Euro konnten aber alle erst einmal wieder profitieren und gemeinschaftlich so weitermachen wie zuvor, mit Exportieren die Einen und Konsumieren die Anderen. Doch von da an blieb den konsumierenden Partnern zur Aufrechterhaltung ihrer Importfähigkeit schließlich nur noch das Schuldenmachen.

Ouzo für Klaus – Das gefiel Michel, jedenfalls so lange seine Waren gekauft wurden. Als abzusehen war, dass so manche seiner eifrigen Kunden ihre Rechnungen bald nicht mehr begleichen werden könnten, war für einige Konsumstaaten schließlich Schluss mit lustig und sie wurden nun für stinkfaul erklärt – was Václav Klaus den Euro-Gegner, EU-Skeptiker und Präsidenten des Nicht-Euro-Landes Tschechien seinerzeit zu dem Spruch veranlasst haben soll: Es sei ja eine ehrenwerte Lebensweise, den ganzen Tag im Schatten von Olivenbäumen Ouzo zu trinken, nur dürfe man dann nicht den Fehler begehen, sich in eine Währungsunion ausgerechnet mit Deutschen zu begeben…

Ich, Michael, ein deutscher Michel, muss an dieser Stelle endlich gestehen, dass ich eigentlich gar keine Ahnung habe, worüber ich da schwadroniere, vermutlich weniger sogar, als Václav Klaus oder Olaf Scholz. Das bisher Gesagte ist aus allen möglichen und unmöglichen Quellen zusammengeschustert zu einem wirtschaftlichen Halbwissen. Aber weil Wirtschaft sowieso zu fünfzig Prozent Psychologie ist, und ich getreu nach dem Motto vorgehe: Ich versteh’ zwar nichts von Wirtschaft, aber die Wirtschaft mich ja auch nicht!, erlaube ich mir nun diese Weisheit zum Besten zu geben: Geld, diese zur Tatsache gewordene Abstraktion, kann Freundschaften zunächst zwar erleichtern, doch so manches Mal zerbrechen sie schließlich daran.

Hausbackene Weisheit – Immerhin muss ich mich wenigstens nicht erst dumm stellen, um bereit zu sein für die nächste dumme Frage. Bisher hatten wir uns ja vornehmlich mit dem Menschen an sich befasst, dem Krieger, Künstler und Rechthaber in uns. Doch nun muss es ums Ganze gehen: die Humangesellschaft, um Staaten und eben auch Staatenbünde – deshalb also diese dümmliche Frage: Was hält eine Gemeinschaft aus Individuen oder Völkern letztlich zusammen?

Antwort: fixe Ideen – und was wäre fixer als Schulden? Ideen haben ihren Wert ja nicht unbedingt in ihrer Realisierbarkeit, sondern darin, dass wir unser Denken und Handeln an ihnen erst einmal grob orientieren. Ideen leuchten umso heller, je weniger sie wirklich sind. Ideen sind der Kit, der alles zusammenhält, und nichts eignet sich scheinbar besser dazu, der neue Kit der Europäischen Union zu werden, als gemeinsame Schulden. Schulden sind einfach eine irre und tolle, eben fixe Idee, denn es gibt sie schlichtweg nicht!

Schulden sind ein reines Fantasiegebilde, das einzig auf Papieren und als digitale Verbuchung existiert. Man stelle sich vor, alle Schuldner zahlen ihre Schulden auf einen Schlag zurück. Was hätte sich geändert? Nichts. Oder umgekehrt: Alle Schuldner dieser Welt, Staaten und Privatleute, auch jene unter ihnen, die gleichzeitig Gläubiger sind, weigern sich von einem Tag auf den anderen ihre Schulden zu bedienen. Was würde passieren? Nichts. Denn da war nichts. Und da ist nichts mehr, der neue Tag begänne, wie alle anderen zuvor. Das funktionierte natürlich nur, wenn es alle gleichzeitig tun würden und kein Schuldeneintreiber oder Gerichtsvollzieher dieser Welt mit dem Kuckuck-Kleben da noch hinterherkäme – und wenn, dann wären eben die überall aufgebappten Kuckucks die Klebemasse, die den Laden zusammenhält.

Das wird aber so nicht kommen, doch eine vage Vorstellung davon, wie fix die Idee der Schulden werden kann, mag diese kleine Geschichte aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten vermitteln: Auf dem Höhepunkt der ersten Schuldenkrise 2002 war ich in New York. Mein amerikanischer Gastgeber hatte Schulden: über 20.000 Dollar. Sein Telefon stand nicht still, abnehmen sollte ich den Hörer aber nicht. So lauschte ich dem Anrufbeantworter: „Hi (es folgte immer der Vorname), hier spricht der Schuldeneintreiber von der Firma (hier folgte irgendwas mit „credit“). Wir haben ein Angebot: Zahl sofort 1.000 Dollar und der Kredit von 20.000 ist damit erledigt“. Wie geht das? Diese Firma hatte den von der Bank ohnehin schon abgeschriebenen Kredit für vielleicht 500 Dollar gekauft und treibt ihn nun ein – das war’s dann mit den 19.500 Dollar Schulden, ganz, als hätten sie nie existiert.

Kommunist! – Als ich diese Geschichte wiederum einem Wirtschaftsnotar in Tschechien erzählte, jubelte er sogleich mit seinem untrüglichen postkommunitischen Kapitalistensinn: „Wenn das so läuft, braucht man ja gar keine Sozialfürsorge mehr! Wir nehmen einfach nur Schulden auf, wenn wir Geld brauchen. Das kommt aufs Gleiche raus, denn letztlich ist Sozialfürsorge ja auch nichts anderes als Schuldenmachen, nur im Großen“ – womit wir übrigens gleich eine weitere fixe Idee ad acta legen können: Eine so genannte „Sozialunion“ mit Katalog gemeinschaftlicher Sozialleistungen wird es in der EU niemals geben. Diese Idee ist einfach nicht fix genug, um ein gemeinschaftliches Projekt werden zu können.

Wirtschafts- und Zollunion – nichts leichter als das! Man nehme die Freihändler aller Länder, sperrt sie zusammen in ein Zimmer und lässt sie überlegen, was sie bräuchten um eine Gemeinschaft zu gründen: Zölle abschaffen, Kapitalströme befreien, Industrienormen anpassen, Haftungs- und Versicherungsfragen klären – und fertig ist die Union! Auf geht’s: Produzieren, kaufen, verkaufen, konsumieren. Und ach, die Arbeitnehmerfreizügigkeit bitte auch noch, damit die bedürftigen Menschen dorthin gehen können, wo’s was zu tun gibt, und dort wiederum, wo es was zu tun gibt, die Löhne nicht aus dem Ruder laufen…

Nun stelle man sich vor, man sperrte Arbeits- und Sozialpolitiker, Gewerkschafter, Rentenexperten und überhaupt alle betroffenen Menschen aller Länder zusammen und ließe sie überlegen, wie eine gemeinsame Sozialfürsorge aussehen könne: Export-Michel sagt, Rente gibt’s entsprechend dem Beitrag an der Produktionsmaschinerie, wer zu wenig beigetragen hat, wie wohl schon bald vierzig Prozent unserer Alten, kriegt genau so viel wie die, die gar nichts beitragen haben – das ist gerecht! Die Calvinisten in Holland haben nichts gegen eine allgemeine Grundrente, aber nicht an alle, sondern nur an die, die über fünfzig Jahre im Lande waren – das ist vernünftig! Die Postkommunisten in Böhmen zahlen allen Versicherten ab derzeit 62 Jahren einfach eine Rente entsprechend der erworbenen Ansprüche aus, nicht allzu viel, aber jeder hatte ja ausreichend Zeit, sich darauf einzustellen und kann ohne Abschläge vom Ruhegeld auch gerne weiterarbeiten – das ist Freiheit!

Man könnte die Wortmeldungen beliebig fortsetzen, die Franzosen ihr „solidarité“ schmettern, die Lutheraner aus Skandinavien nach hohen Steuern rufen und die Katholiken aus dem Süden für Notlagen Beten empfehlen lassen – eines ist gewiss: an der Organisation ihrer sozialen Fürsorge scheiden sich die Menschengemeinschaften entsprechend ihrer Mentalitäten und Grundüberzeugungen. Und weil diese Debatte auch noch mit unumstößlichen Begriffen – Gerechtigkeit, Freiheit, Vernunft – unweigerlich begleitet wird, dürfte jede Einigung schwer werden, zu schwer, um eine Union daraus zu machen.

Fixe Idee oder einfach irre? – Also besser jetzt gemeinsame Schulden machen und den Rest Zukunft sein lassen! Und immer so denken und handeln, als gäbe es diese Schulden wirklich. Schulden binden uns aneinander egal auf welche Seite der verborgten Medaille man schaut, denn wo der Schuldner beten darf, muss der Gläubiger glauben. Aber zum Kuckuck nochmal: Ob die Rechnung letztlich aufgehen wird? Oder doch nur ein leidlich bekannter Teufelskreis in Gang gesetzt wird, der in einer guten alten Bankenrettung endet? Könnte man sich nicht vielleicht Gedanken machen, ob man soviel Geld überhaupt braucht? Ob Schulden nicht immer nur das finanzieren, was man vielleicht gerade nicht mehr braucht? Dass man nicht – oh, verwegene Idee! – alles ein bisschen heruntergefahren beließe, die Produktion, den Konsum, Export und Import, schauen, was obsulet geworden ist oder was wir mit den vorhandenen Mitteln erreichen können. Und mal sehen, ob das nicht auch genügte zum Glücklichsein – für die Umwelt wäre es ja eh’ besser, wenn…

… so so, mein lieber Michael, du alter Michel, jetzt ist aber gut. Drehst wohl gerade durch. Hast wohl schon Corona im Hirn. Aber wird schon, jetzt werden erst einmal gemeinsam Schulden gemacht und spätestens in zwei Wochen, wenn die Kommission und die Abgeordneten unserer Union wieder hier bei uns Straßburg zur Plenartagung zusammenkommen, fällt denen schon ein, was sich mit dem Geld alles Schönes anstellen lässt für Handel, Verkehr und wofür die sonst noch alles mehr oder weniger fixe Ideen haben…

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